„Richtige“ Therapie nach schwerer Schädel-Hirn-Verletzung bislang unklar
Die Phase erhöhter Plastizität ist unmittelbar nach einem Neurotrauma wahrscheinlich am größten. Allerdings konkurrieren noch schädigende mit reparativen bzw. regenerativen Prozessen. Zeiler et al. Untersuchten, ob sich die Phase der Neuroplastizität verlängern bzw. wiedereröffnen lässt. Dabei wurde im Mausmodel ein zweiter ischämischer Schlaganfall 7 Tage nach erstem induziert und ermöglichte eine vollständige Erholung hin zu prämorbiden Level[1] (Zeiler SR, et al.). Eine andere tierexperimentelle Studie zeigte bezüglich der Wirksamkeit des Acetylcholinesterase-Inhibitors Donepezil nach kontrolliertem kortikalen Trauma im Tiermodell ein eher ernüchterndes Bild: Die Wirkung auf Kognition und motorische Wiedererlangung von Donepezil war nicht nachweisbar und schwächte die nachgewiesenen positiven Effekte eines „enriched environment“ sogar ab[2] (Bondi CO et al.).
Immerhin konnte dieselbe Arbeitsgruppe um Kline zeigen, dass eine tägliche antikonvulsive Therapie mit Lorazepam, welche häufig bei unseren Patienten angewandt wird, keinen negativen Effekt auf das Wiedererlangen motorischer Fähigkeiten darstellt – zumindest im Rattenmodell[3] (Cheng J, et al.).
Trotz all der experimentellen Erkenntnisse, die sicher weiter intensiviert werden müssen, bleibt für den klinischen Alltag auf der neurorehabilitativen Intensivstation bis auf weiteres die frühzeitige Physio-, Ergo- und Schlucktherapie, sobald es der Zustand des Patienten mit Beatmung erlaubt. – In Zeiten des Pflegekräftemangels als größte Herausforderung schwer genug.
Deutlich mehr Patienten mit schweren Behinderungen
Die Sterberate nach Schädel-Hirn-Verletzung ist zwar – dank der Fortschritte in der Akutversorgung und der Intensivmedizin gesunken, aber die Zahl der körperlich und geistig schwer behinderten Patienten ist deutlich angestiegen. Daher stellt die Behebung möglicher Folgeschäden nach Gehirnverletzungen eine der größten Herausforderungen der Rehabilitation dar. Die optimale Rehabilitationsform nach einer schweren Schädel-Hirn-Verletzung ist bislang noch unklar. Dies geht unter anderem aus der Befragung im Rahmen der Center TBI Studie hervor bei der von 71 Zentren gerade 13 Zentren (19%) angaben, Guidelines bzw. strukturierte Vorgaben für die Rehabilitationsmaßnahmen nach Schädel-Hirn-Verletzung zu haben.
Ein Vorteil scheint die Tatsache zu sein, dass ein „multidisziplinäres Team“ für die Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Verletzung eingesetzt wird und dies möglichst frühzeitig- entweder bereits in der Akutversorgungseinrichtung oder im Rahmen einer frühzeitigen Verlegung in eine geeignete Rehabilitationseinrichtung. Die zeitnahe Verlegung ist hierbei europaweit deutlich beeinflusst vom Alter der Patienten, wobei Patienten über 65 Jahre deutlich seltener oder später in eine solche Einrichtung verlegt werden (Cnossen M. et al. J Rehabil Med. 2017) und damit auch potentiell schlechtere Erholungschancen haben.
Kreativtherapie als Chance
Obwohl die „richtige“ Therapie bislang unklar bleibt, setzt man in vielen Einrichtungen, insbesondere in Österreich, neben dem möglichst frühen Einsatz von Kerntherapien (umfassende physische, psychische und soziale Betreuung) auf die sogenannte „Kreativtherapie“ bestehend aus Physio-, Ergotherapie, Logopädie und neurophysiologischem Training. Ziel der Kreativ-Therapien ist es, auf allen Ebenen des neuralen Netzwerkes die Verbindungen und Verschaltungen durch visuelle und akustische Stimuli zu stärken und damit die körperlichen und geistigen Fähigkeiten so weit zu verbessern, dass der Patient wieder in ein normales Leben zurückfindet und in das häusliche und berufliche Umfeld integriert wird.
Die Neurorehabilitation unterscheidet sich hierbei grundlegend von allen anderen Formen der Rehabilitation und erfordert die Zusammenarbeit von hochqualifizierten Experten, um die Plastizität des Gehirns wieder zu nutzen. Durch Hören von Musik, Betrachten und Umsetzen von Bildern werden akustische und visuelle Zentren des Gehirns aktiviert. Einzelne Studien zeigen, dass ein Patient auch in tiefer Analgo-Sedierung Wahrnehmungsfunktionen hat, vor allem im akustischen Bereich. Deshalb wird bereits auf vielen Intensivstationen Musiktherapie mit angenehmen Klängen oder eigener Lieblingsmusik des jeweiligen Patienten zur Stimulierung und Entspannung des Patienten durchgeführt (Hedge S., Front Neurol 2014). Dies scheint insbesondere auch bei aggressiven oder durchgängigen Patienten zu deutlicher Entspannung und Verbesserung des Gesamtzustandes zu führen. Im weiteren Verlauf der Rehabilitation dient die Musiktherapie dann insbesondere der emotionalen Bewältigung des Traumas sowie der veränderten Lebenssituation, und nicht zuletzt einer Gemütsaufhellung. Fast alle Patienten zeigen während der Musiktherapie eine diffuse Zunahme der Theta-Tätigkeit, danach eine Zunahme der Alpha-Tätigkeit als Ausdruck einer verbesserten Wachheit und Entspannung. Auch eine Verbesserung motorischer Fähigkeiten konnte nach Anwendung der Musiktherapie in einigen Studien am ehesten als Ausdruck der verbesserten neuronalen Plastizität gezeigt werden (Särkämö T. Soto D., Ann N Y Acad Sci 2012; Altenmüller E. und Schlaug G., Prog Brain Res 2015; Review: Magee WL, et al., Cochrane Database Syst Rev 2017).
Malen und Formgestalten kann Sprachstörungen verbessern
Der Vorteil der Kreativtherapie (Musik-, Mal- und Keramiktherapie) liegt potentiell darin, dass sie die Möglichkeit einer non-verbalen Kommunikation in einer gelösten Atmosphäre ohne Leistungsdruck bietet. Sie wird zur Erfassung und Besprechung visueller Wahrnehmungsprobleme genutzt. Alle Patienten arbeiten unter der Leitung einer Mal- oder Keramiktherapeutin, in Gruppen oder einzeln. Die Mal- und Keramiktherapie ist auch in der Lage, eine Sprachstörung bei linkshirniger Schädigung zu verbessern, da durch die Beschäftigung mit Gebrauchsgegenständen die Erinnerung an diese Dinge (z.B. Teller, Tasse etc.) wiederkehrt und ihre Namen ausgesprochen werden können. Auch eine Apraxie kann sich durch das Gestalten von Formen als komplexe Handlungsplanung und Ausführung verbessern. Wichtig scheint bei der Kreativtherapie die Auswahl der Musik und auch der Gestaltungsformen zu sein. Obwohl diese Therapie bislang nicht ausreichend durch entsprechende Studien belegt ist, wird sie in vielen Zentren seit Jahren mit Erfolg angewandt und scheint zumindest in der Lage zu sein, einem Teil der Patienten nach Schädel-Hirn-Schädigung zumindest einen Teil an Lebensqualität zurückzugeben.
Prof. Dr. Felix Schlachetzki / Dr. Sylvia Bele
[1] Steven R. Zeiler, Robert Hubbard, Ellen M. Gibson, Tony Zheng, Kwan Ng, Richard O’Brien, John W. Krakauer „Paradoxical Motor Recovery From a First Stroke After Induction of a Second Stroke: Reopening a Postischemic Sensitive Period“. Neurorehabilitation and Neural Repair, 2016, Vol. 30(8) 794–800.
[2] Bondi CO, Yelleswarapu NK, Day-Cooney J, Memarzadeh K, Folweiler KA, Bou-Abboud CE, Leary JB, Cheng JP, Tehranian-DePasquale R, Kline AE
„Systemic administration of donepezil attenuates the efficacy of environmental enrichment on neurobehavioral outcome after experimental traumatic brain injury“. Restor Neurol Neurosci, 2018, 36 (1): 45-57.
[3] Cheng JP, Leary JB, O’Neil DA, Meyer EA, Free KE, Bondi CO, Kline AE
„Spontaneous recovery of traumatic brain injury-induced functional deficits is not hindered by daily administration of lorazepam”. Behav Brain Res., 2018, Feb 26; 339: 215-221.