Mathematisches Modell identifiziert Unterschiede zwischen einzelnen Zellen
Moderne Methoden erlauben heutzutage detaillierte Analysen einzelner Zellen. Dabei zeigt sich immer öfter: Augenscheinlich gleiche Zellen können sehr unterschiedlich auf denselben Reiz reagieren. Ein Team des Helmholtz Zentrums München, der Technischen Universität München (TUM) und der Uniklinik Köln hat nun in ‚Cell Systems‘ ein mathematisches Modell vorgestellt, das solche Unterschiede analysiert und deren Ursache identifiziert.
„Einzelzelldaten haben in den letzten Jahren unser Verständnis vieler biologischer Prozesse revolutioniert“, erklärt Dr. Jan Hasenauer, Leiter der Nachwuchsgruppe Data-driven Computational Modelling am Helmholtz Zentrum München und Junior Fellow an der TUM. „Allerdings erleben wir in unseren Analysen, dass die Zellen ähnlich wie wir Menschen sehr individuell auf ihre Umwelt reagieren.“
Um die Ursache dafür zu ergründen, haben er und sein Team einen neuen mathematischen Analyseansatz entwickelt. Jan Hasenauer beschreibt den Grundgedanken so: „Galileo Galilei sagte einst: Messe, was messbar ist, und mache messbar, was nicht gemessen werden kann. In diesem Sinne verwenden wir Mathematik um Informationen über biologische Systeme zu erhalten, die bisher kaum experimentell zugänglich sind.“
„Anders als aktuelle Methoden, die sich meist lediglich auf einen einzigen Datensatz stützen, nutzen wir bei unserem Ansatz existierendes Vorwissen über zelluläre Signalwege und kombinieren dies mit flexiblen statistischen Modellen sowie mit einer Vielzahl von Messdaten“, erklärt Carolin Loos, die gemeinsam mit Katharina Möller Erstautorin der aktuellen Arbeit ist.
Praxistest mit schmerzsensiblen Nervenzellen
Um die Methode zu testen, untersuchten Forscher um Prof. Dr. Tim Hucho von der Uniklinik Köln sogenannte nozizeptive Neurone, also Nervenzellen, die schmerzhafte Reize wahrnehmen. Konkret studierten sie, ob sich die schmerzsensitivierende Wirkung des Botenstoffs NGF (nerve growth factor) durch Unterschiede der Zellumgebung, der sogenannten Matrix, verändert.*
„Denn NGF aktiviert nur einen Teil der Nervenzellen“, erklärt Tim Hucho. „Beobachtet man eine verstärkte Reaktion von Zellen auf NGF, so könnte dies einerseits daran liegen, dass mehr NGF-responsive Zellen an der Matrix anhaften. Andererseits könnten jedoch auch einfach die Signalübertragung in einzelnen Zellen verstärkt worden sein.“ Berechnungen mit dem mathematischen Modell aus München hatten ergeben, dass die Matrix die Signalstärke des Botenstoffs NGF in einzelnen Zellen verstärkt. Diesen Mechanismus konnten die Kölner Wissenschaftler tatsächlich im Labor bestätigen.
Künftig, so hoffen die Autoren, könnten die Ergebnisse dazu beitragen, die Rolle von Gewebeveränderungen bei unterschiedlichsten schmerzhaften Erkrankungen besser zu verstehen. „Darüber hinaus möchten wir versuchen, weitere schwer zugängliche zelluläre Mechanismen messbar zu machen“, so Studienleiter Hasenauer. „Vielleicht könnten so neue schmerzlindernde Ansätze entdeckt werden.“ Zudem planen er und sein Team die Anwendung der Methode auf komplexe Einzelzelldatensätze im Zusammenhang mit verschiedenen Krankheiten.
Weitere Informationen
* Bei den unterschiedlichen Umgebungen handelte es sich um die extrazelluläre Matrix, die entweder aus Kollagen I oder aus Poly-D-Lysin (PDL) bestand.
Original-Publikation:
Loos, C. et al. (2018): A hierarchical, data-driven approach to modeling single-cell populations predicts latent causes of cell-to-cell variability. Cell Systems, DOI: 10.1016/j.cels.2018.04.008
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