Alzheimer im Miniformat

Wie könnten Reparaturvorgänge des Gehirns gefördert werden? Aktuelle Laborversuche liefern Hinweise darauf. Die Experimente beruhen auf einem neuartigen Modellsystem mit menschlichen Stammzellen und biohybriden Polymer-Hydrogelen.

Dresden, 2. Juli, 2018. Dresdner Forschern ist es gelungen, Mechanismen der Alzheimer-Erkrankung in einem neuartigen, stammzellbasierten Modellsystem nachzuahmen. Dieses gibt Merkmale menschlichen Hirngewebes wieder. Nach Einschätzung der Wissenschaftler können mit diesem Forschungsinstrument Krankheitsprozesse untersucht werden und es könnte bei der Suche nach neuen Therapiemöglichkeiten behilflich sein. Die in der Zeitschrift Developmental Cell veröffentlichten Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich mit Hilfe des Immunsystems neuronale Reparaturvorgänge auslösen lassen. Diese könnten dem Gehirn möglicherweise helfen, mit Alzheimer besser umzugehen. An der Studie beteiligten sich das DZNE, das Leibniz-Institut für Polymerforschung Dresden e.V. (IPF), das Zentrum für Regenerative Therapien an der TU Dresden (CRTD) sowie weitere Institutionen aus dem In- und Ausland.

Mit Hilfe des neuen Krankheitsmodells fanden die Forscher einen Ansatz, um die Herstellung von Nervenzellen durch so genannte Stammzellen anzukurbeln. Dies setzte Reparaturvorgänge in Gang. Fachleute sprechen von „neuronaler Regeneration“.

„Neuronale Stammzellen sind die Vorläufer von Nervenzellen. Sie kommen im Gehirn natürlicherweise vor und bilden daher ein Reservoir für neue Nervenzellen. Bei Alzheimer verlieren die neuronalen Stammzellen jedoch diese Fähigkeit. Nervenzellen, die durch die Krankheit verlorenen gegangen sind, können sie daher nicht ersetzen“, erläutert Dr. Caghan Kizil, Leiter der aktuellen Studie und Wissenschaftler am DZNE und am CRTD. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich das Potenzial neuronaler Stammzellen zur Bildung von Nervenzellen freisetzen lässt. Und zwar durch Einwirkung auf das Immunsystem. Diese neuen Zellen fördern die Regeneration und könnten dem Gehirn möglicherweise helfen, die Krankheit besser zu bewältigen. Dies deutet auf einen möglichen Therapieansatz hin, den wir weiter erforschen wollen. Ob dieser beim Menschen funktioniert, können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehen. Das ist derzeit noch Grundlagenforschung.”

Dreidimensionale Netzwerke

Das neue Krankheitsmodell beruht auf menschlichen Stammzellen, die in einem Polymer-Hydrogel eingebettet sind. Das weiche, transparente Material besteht aus dem Glykosaminoglykan Heparin, dem synthetischen Polymer Polyethylenglykol und verschiedenen funktionellen Peptideinheiten. Diese Zellkulturen werden dann in kleinen Kulturschälchen von weniger als einem Milliliter Volumen gezüchtet. „Das Hydrogelsystem erlaubte es uns, physikalisch-chemische und biomolekulare Eigenschaften so zu kombinieren, dass die eingebetteten Zellen dreidimensionale Netzwerke ausbilden. Diese ähneln den neuronalen Geflechten des menschlichen Gehirns“, betont Carsten Werner, Leiter der Biomaterialforschung des IPF und Professor für Biofunktionelle Polymermaterialien am CRTD. Er weist darauf hin, dass sich der aktuelle Aufbau noch weiter miniaturisieren ließe: „Die Größe des Kulturraums ist weniger relevant, das Prinzip erlaubt es mit noch weit geringeren Volumina zu arbeiten.“

„Es gibt bereits andere Krankheitsmodelle, die auf menschlichen Stammzellen basieren. Sie eignen sich jedoch nicht dafür, um unseren Fragen zur neuronalen Regeneration nachzugehen“, sagt Kizil. „Wir sind überzeugt, dass unser System in einigen Aspekten neuartig ist. Die Stammzellen können sich zum Beispiel ähnlich wie ihm Gehirn verhalten.“

Kizil sieht daher diverse Einsatzmöglichkeiten. „Aufgrund seiner besonderen Eigenschaften dürfte unser Modell nicht nur zur Untersuchung von Krankheitsprozessen hilfreich sein. Anwendungen sehe ich auch in der Pharmaindustrie. Hier könnte es in der frühen Phase der Arzneimittelentwicklung zur Prüfung von Wirkstoffprüfung eingesetzt werden.“

Nachbildung von Krankheitsmerkmalen

Wenn nach dieser Methode gezüchtete Zellen mit „Amyloid-beta“ — an der Alzheimer-Erkrankung beteiligte Proteine — in Kontakt kamen, entwickelten sich typische Krankheitsmerkmale. Darunter Aggregate von Amyloid-beta: die berüchtigten „Plaques“. Darüber hinaus beobachteten die Forscher innerhalb von Nervenzellen Ablagerungen von Tau-Proteinen, diese sind ein weiteres Kennzeichen von Alzheimer. Außerdem fanden sie massive Schäden an Nervenzellen und deren Verbindungen. Der Einsatz des Immunsystemmoleküls „Interleukin-4“ veranlasste jedoch neuronale Stammzellen zur Produktion neuer Nervenzellen. Die Schäden durch Amyloid-beta wurden so abgemildert.

Grundlage für neue Therapien?

„Im menschlichen Gehirn hat die Immunantwort verschiedene Auswirkungen —negative und auch positive. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass wir durch Beeinflussung dieser Mechanismen die Alzheimer-Erkrankung bekämpfen können“, sagt Kizil. „Interessanterweise belegen unsere Daten nicht nur die positive Wirkung von Interleukin-4. Sie zeigen auch, dass dieser Effekt mit der Regulation eines Stoffwechselprodukts namens Kynurensäure zusammenhängt. Das ist bedeutsam, denn man weiß, dass in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten der Kynurensäure-Spiegel erhöht ist. Unser Modell liefert daher Informationen darüber, wie verschiedene Akteure, die für Alzheimer relevant sind, zusammenwirken. Insofern könnte unser Modell helfen, den Weg für Therapien zu ebnen, die auf neuronaler Regeneration beruhen.“

Kooperationspartner

Das Leibniz-Institut für Polymerforschung Dresden e. V. (IPF) ist eine der größten Polymerforschungseinrichtungen in Deutschland (ca. 500 Mitarbeiter) und betreibt ganzheitliche Materialforschung von der Synthese und Modifizierung polymerer Materialien, über die Charakterisierung, theoretische Durchdringung bis hin zur Verarbeitung und Prüfung. Als Institut der Leibniz-Gemeinschaft ist es der anwendungsorientierten Grundlagenforschung verpflichtet. Schwerpunkte der Biomaterialforschung des IPF (am Max-Bergmann-Zentrum für Biomaterialien Dresden) sind die Gestaltung von biohybriden Polymer-Hydrogelen, die Rekonstitution von Biopolymer-basierenden Matrices sowie die physikalisch-chemische und biologische Charakterisierung zell-instruktiver Materialien.

Das 2006 gegründete Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) der Technischen Universität konnte sich in der zweiten Runde der Exzellenzinitiative erneut als Exzellenzcluster und DFG-Forschungszentrum durchsetzen. Ziel des CRTD ist es, das Selbstheilungspotential des Körpers zu erforschen und völlig neuartige, regenerative Therapien für bisher unheilbare Krankheiten zu entwickeln. Die Forschungsschwerpunkte des Zentrums konzentrieren sich auf Hämatologie und Immunologie, Diabetes, neurodegenerative Erkrankungen sowie Knochenregeneration. Zurzeit arbeiten acht Professoren und zwölf Forschungsgruppenleiter am CRTD, die in einem interdisziplinären Netzwerk von über 90 Mitgliedern sieben verschiedener Institutionen Dresdens eingebunden sind. Zusätzlich unterstützen 21 Partner aus der Wirtschaft das Netzwerk. Synergien im Netzwerk erlauben eine schnelle Übertragung von Ergebnissen aus der Grundlagenforschung in klinische Anwendungen. Das CRTD ist Teil des Center for Molecular and Cellular Bioengineering (CMCB).

Originalveröffentlichung
3D Culture Method for Alzheimer’s Disease Modeling Reveals Interleukin-4 Rescues Aß42-Induced Loss of Human Neural Stem Cell Plasticity.
Christos Papadimitriou et al.
Developmental Cell (2018).
DOI:10.1016/j.devcel.2018.06.005