Krebszellen im Winterschlaf

Ein neues, bundesweites Schwerpunktprogramm erforscht die Entstehung von Knochenmetastasen. Daran beteiligt sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität und des Uniklinikums Würzburg.

„μBONE – Kolonisierung und Interaktionen von Tumorzellen innerhalb der Knochenmikroumgebung“: So lautet der Titel eines neuen Schwerpunktprogramms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Deutschland in den kommenden sechs Jahren eng zusammenarbeiten werden. Gemeinsam suchen sie nach Möglichkeiten, Knochenmetastasen nach einer vorherigen Brust- oder Prostatakrebserkrankung sowie Knochenveränderungen beim Multiplen Myelom frühzeitig zu erkennen beziehungsweise deren Entstehung zu verhindern. Die Universitätsmedizin Dresden koordiniert das Projekt; die Universitätsmedizin Würzburg ist mit zwei Projekten daran beteiligt. Insgesamt 7,8 Millionen Euro stehen dafür in den kommenden drei Jahren zur Verfügung. Etwa 700.000 Euro davon fließen nach Würzburg.

Wenn Krebszellen den Knochen zerstören

Jede achte Frau sowie jeder achte Mann erkrankt im Laufe des Lebens an Brust- beziehungsweise Prostatakrebs. Diese beiden Karzinome sind bei den beiden Geschlechtern somit die am häufigsten auftretenden Krebsarten. „Es ist leider oft klinischer Alltag, dass wir Patientinnen mit Brustkrebs und Patienten mit Prostatakrebs sehen, deren Tumorerkrankung bereits vor mehreren Jahren besiegt schien, bei denen die Krankheit aber in Form von Knochenmetastasen zurückkehrt“, sagt Professor Lorenz Hofbauer, Altersmediziner und Knochenspezialist am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden und Koordinator des µBONE-Konsortiums.
Das Multiple Myelom ist eine weitere Tumorerkrankung, die in den Knochenstoffwechsel massiv eingreift. Die Folge sind Knochenbrüche, starke Schmerzen und eine Einschränkung der Lebensqualität. „Gerade das Mammakarzinom und das Prostatakarzinom neigen bei fortgeschrittener Erkrankung in bis zu 80 Prozent zur Ansiedlung in den Knochen, das Multiple Myelom ist in den allermeisten Fällen von vornherein im Knochen lokalisiert“, erklärt Hofbauer. Die Krebszellen halten im menschlichen Körper im Knochenmark über Jahre eine Art „Winterschlaf“ und zerstören nach dem Erwachen den Knochen relativ rasch. Die Forscher wollen die Prozesse verstehen, die zu dieser Entwicklung führen.

Wie Knochenmetastasen entstehen

„Die genauen Mechanismen und die einzelnen Entwicklungsschritte der Knochen- und Tumorzellen auf dem Weg zur klinisch erkennbaren Knochenmetastase sind unzureichend erforscht, stellen aber eine Grundvoraussetzung für eine frühzeitige Diagnose sowie eine verbesserte Prävention und Therapie dar“, sagen die beteiligten Forschungsleiter in Würzburg. Dazu gehören zum Einen der Hämatoonkologe Professor Andreas Beilhack gemeinsam mit Dr. Andreas Brandl aus der Medizinischen Klinik und Poliklinik II sowie zum Anderen der Osteologe Professor Franz Jakob gemeinsam mit der Privatdozentin Dr. Regina Ebert vom Lehrstuhl für Orthopädie.
Die Würzburger Forscherinnen und Forscher fokussieren sich im μBONE-Projekt auf das Multiple Myelom und die damit verbundene Knochenerkrankung. Sie werden normale und entartete Plasma- und Knochenzellen genauer unter die Lupe nehmen mit dem Ziel, deren Wechselspiel sowohl auf der molekularen als auch auf einer funktionellen Ebene zu charakterisieren. Mit Hilfe dieser Erkenntnisse  hoffen die Wissenschaftler, Aussagen über die klinischen Konsequenzen der Knochenerkrankung und das Überleben beim Multiplen Myelom ableiten zu können.

Genauer Blick auf die einzelne Zelle

Mit modernsten Techniken werden sie die wechselseitige Beeinflussung von Tumor- und Knochenzellen untersuchen. Hierfür arbeiten das Orthopädische Zentrum für Muskuloskelettale Forschung mit Professor Jürgen Groll und Dr. Ana Sancho vom Lehrstuhl für Funktionswerkstoffe der Medizin und der Zahnheilkunde des Würzburger Universitätsklinikums zusammen. Diese werden mit neuartigen Methoden, wie beispielsweise  der Fluid-Atomic-Force-Microscopy,  physikalische Kräfte bei der Zell-Zell-Interaktion untersuchen und Einzel-Zell-Analysen vorbereiten.
Ebenfalls an diesem Projekt beteiligt ist eine Forschergruppe der Universität Heidelberg. Die Heidelberger Arbeitsgruppe soll die in Würzburg gewonnenen Erkenntnisse mit den medizinischen Daten von sehr vielen Patienten mit Multiplem Myelom in Beziehung setzen und auf dieser Basis zelluläre Phänomene beschrieben, die einen wesentlichen Einfluss auf den Verlauf der Krankheit haben. Die Wissenschaftler erhoffen sich davon neue Ansätze zum Verständnis und zur Therapie der Erkrankung.
Gut versteckt in der Knochenmarksnische
Andreas Beilhack und Andreas Brandl konzentrieren sich in ihrem Teilprojekt auf die Frage, wie Multiple-Myelom-Zellen sich über sogenannte Adhäsionsmoleküle in der Knochenmarksnische einnisten können. Die Forscher vermuten, dass sich die bösartigen Myelomzellen über Wechselwirkungen mit diesen Molekülen während ihres „Winterschlafs“ vor der Erkennung durch das Immunsystem, aber auch gegen Chemotherapien schützen. „Im Vordergrund steht die Aufklärung der molekularen Zusammenhänge, wie die malignen Myelomzellen bestimmte Adhäsionsmoleküle missbrauchen, um über Jahre im Knochenmark auszuharren und sich, von der körpereigenen Immunantwort unerkannt, schleichend auszubreiten und den Knochen zu zerstören,“ erklärt Andreas Beilhack.
Vorarbeiten der Wissenschaftler weisen auch darauf hin, dass ein weiteres Adhäsionsmolekül wiederum bei der Ausbreitung der Tumorerkrankung im Knochen wichtig sein könnte. Wie diese Mechanismen im Detail funktionieren, soll nun in den nächsten Jahren mit molekularen Methoden und eigens für diese Fragestellungen an der Universität Würzburg entwickelten Mikroskopen untersucht werden.

Gute Zusammenarbeit über Fachgrenzen hinweg

„Die wissenschaftliche Verknüpfung mit Kollegen aus verschiedenen Forschungsstandorten über traditionelle Fachgrenzen hinaus hat sich schon in der Vergangenheit bewährt“, sagt Andreas Brandl. Der Grundstein für das aktuelle Forschungsprojekt wurde durch einen engen wissenschaftlichen Austausch der Forscher an der Medizinischen Klinik II und den Osteologie-Experten Franz Jakob und Regina Ebert gelegt.
Für ihre ehrgeizigen Pläne, auf Basis dieses Forschungsprojekts neue Therapiekonzepte für Patienten zu entwickeln, treffen die Wissenschaftler in Würzburg auf ein fruchtbares Umfeld. Die Medizinische Klinik und Poliklinik II unter Leitung von Professor Hermann Einsele gilt als ein europäisches Spitzenzentrum in der Behandlung von Patienten mit bösartigen Erkrankungen des blutbildenden Systems. So wurde in Würzburg vor wenigen Jahren erstmalig das Medikament Blinatumomab erfolgreich in Krebspatienten erprobt, welches nun weltweit in der Leukämie-Therapie eingesetzt wird.

Links
Orthopädisches Zentrum für Muskuloskelettale Forschung (http://www.orthopaedie.med.uni-wuerzburg.de/orthopaedisches-zentrum-fuer-muskuloskelettale-forschung/)
Homepage Andreas Beilhack (www.beilhack.org)