Orientieren auf die Schnelle: Neue Erkenntnisse zur Wahrnehmungssteuerung im Gehirn

Tübinger Neurowissenschaftler beschreiben Rolle des „Colliculus Superior“ neu ‒ Region im Stammhirn verarbeitet entgegen bisheriger Annahmen selbst visuelle Reize

Augenbewegungen und gerichtete Aufmerksamkeit werden in unserem Gehirn von einer kleinen, zentral sitzenden Struktur im Hirnstamm gesteuert, dem Colliculus Superior („Oberes Hügelchen“). Ein Neurowissenschaftlerteam unter der Leitung von Professor Ziad Hafed vom Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) und Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) an der Universität Tübingen hat nun Hinweise gefunden, dass dieses Hirnareal nicht nur Bewegungen steuert, sondern auch eigenständig visuelle Reize verarbeitet. Es kann grobe, gleichförmige Bildbereiche besonders schnell verarbeiten und stellt so sicher, dass unsere Wahrnehmung die wichtigsten visuellen Informationen aus der Umwelt effizient ansteuern kann.

„Die Art und Weise, wie der Colliculus Superior visuelle Eindrücke aus der Umwelt verarbeitet, ist genau darauf zugeschnitten, dass wir uns zielgerichtet orientieren können“, stellt Ziad Hafed sein Studienobjekt vor. Der Leiter einer Forschungsgruppe am CIN und HIH erforscht seit Jahren das Sehsystem von Primaten. Bei diesen, wie auch bei Menschen, findet die Bildverarbeitung hauptsächlich im visuellen Kortex statt, einem gut erforschten Teil der Großhirnrinde. Hafeds Team war aufgrund eigener früherer Ergebnisse aber überzeugt, dass auch das „Obere Hügelchen“ im Hirnstamm wichtige Funktionen übernimmt. Beim Sehen von Fischen und Amphibien etwa spielt es eine überragende Rolle. Bei Säugetieren und Primaten war die Annahme bislang, dieses Areal lenke lediglich Augenbewegungen und Aufmerksamkeit.

Hafed und seine Forschergruppe aber gingen davon aus, dass der Colliculus Superior eine zentrale Rolle in der visuellen Orientierung und Bewegung im Raum spielt. „Wenn ein Hirnareal schon Augenbewegungen steuert, dann liegt es nahe, dass es allgemeine Orientierungsaufgaben übernimmt“, meint Hafed. „Dazu muss es aber auch visuelle Informationen verarbeiten können.“

Um dieser These nachzugehen, führte sein Labor neurophysiologische Experimente mit Rhesusaffen durch, deren Sehsystem dem unseren sehr ähnlich ist. Die Forscher beobachteten, wie einzelne Gehirnzellen (Neuronen) im Colliculus Superior auf Bildreize reagierten, die den Affen präsentiert wurden. Sie fragten: Würden Veränderungen in Ausrichtung, Kontrast, Hintergrund und anderen Bildeigenschaften für die Neuronen einen Unterschied machen? Ist das untersuchte Areal für Raumorientierung zuständig, müssten Neuronen dort besonders schnell auf solche Reize reagieren, denen wir unsere Aufmerksamkeit zuerst schenken. In natürlichen Umgebungen sind dies allgemeinste Dinge, etwa ob vor uns ein freier Raum liegt, wo Hindernisse sind oder ob zum Beispiel eine Gestalt oder ein Gesicht zu erkennen ist. Damit wir uns in unserer Umwelt orientieren können,  muss unser Gehirn derartige Eindrücke so schnell wie möglich verarbeiten. Erst danach werden die Details wichtig.

Die Wissenschaftler beobachteten deshalb die Reaktion der von ihnen untersuchten Neuronen auf große, gleichförmige Bilder mit einem geringen Maß an Informationsdichte (im Fachjargon: einer niedrigen Raumfrequenz). Derartige Bildreize erhalten wir zum Beispiel, wenn wir Landschaften, Wolken oder den Horizont betrachten. Das Ergebnis: Tatsächlich antworten Neuronen im Colliculus Superior am schnellsten auf Bildreize mit niedriger Raumfrequenz. Zwar reagieren nicht alle Neuronen in gleicher Weise, manche zeigen sogar einen insgesamt stärkeren Ausschlag bei hohen Raumfrequenzen. Aber selbst bei diesen Hochfrequenz-Spezialisten kommt das Signal schneller, wenn flächige, vergleichsweise informationsarme Reize präsentiert werden. Die schnellstmögliche Reaktion auf solche Reize hat offenbar Priorität vor der Analyse des Bildinhalts selbst. Kein Wunder, denn das erste schnelle Signal bestimmt, wie wir orientierende Raumbewegungen ausführen.

Das „Hügelchen“ zeigt also tatsächlich die Fähigkeit, visuelle Muster zu analysieren – diese Eigenschaft hatte die Forschung dem untersuchten Hirnareal bislang abgesprochen. „Unsere Daten liefern sehr konkrete Hinweise, dass der Colliculus Superior bei Primaten nicht nur ein Organ zur Bewegungskontrolle ist“, resümiert Hafed, „sondern eine Struktur, die für das Sehen im Alltag vielleicht ebenso wichtig ist wie der visuelle Kortex.“

Publikationen:

Chen, C. -Y., Sonnenberg, L., Weller, S., Witschel, T., & Hafed, Z. M. (2018). Spatial frequency sensitivity in macaque midbrain. Nature Communications, 9: 2852,
doi: 10.1038/s41467-018-05302-5.

Chen, C. -Y. & Hafed, Z. M. (2018). Orientation and contrast tuning properties and temporal flicker fusion characteristics of primate superior colliculus neurons. Frontiers in Neural Circuits (Special Research Topic: The Superior Colliculus/Tectum: Cell Types, Circuits, Computations, Behaviors), 12:58, doi: 10.3389/fncir.2018.00058

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Das Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) ist eine interdisziplinäre Institution an der Eberhard Karls Universität Tübingen, finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern. Ziel des CIN ist es, zu einem tieferen Verständnis von Hirnleistungen beizutragen und zu klären, wie Erkrankungen diese Leistungen beeinträchtigen. Das CIN wird von der Überzeugung geleitet, dass dieses Bemühen nur erfolgreich sein kann, wenn ein integrativer Ansatz gewählt wird.

Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)
Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) wurde 2001 von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, dem Land Baden-Württemberg, der Eberhard Karls Universität und ihrer medizinischen Fakultät sowie dem Universitätsklinikum Tübingen gegründet. Das HIH beschäftigt sich mit einem der faszinierendsten Forschungsfelder der Gegenwart: der Entschlüsselung des menschlichen Gehirns. Im Zentrum steht die Frage, wie bestimmte Erkrankungen die Arbeitsweise dieses Organs beeinträchtigen. Dabei schlägt das HIH die Brücke von der Grundlagenforschung zur klinischen Anwendung. Ziel ist, neue und wirksamere Strategien der Diagnose, Therapie und Prävention zu ermöglichen. Derzeit sind 21 Professoren und rund 380 Mitarbeiter am Institut beschäftigt.

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