Langzeitgedächtnis im Gehirn: Nicht ohne den Hippocampus

In einer Studie der Universität Tübingen erweist sich die Bildung langfristiger Gedächtnisinhalte jeglicher Art als ganzheitlicher Prozess mit übergeordneter Schaltzentrale

Der Hippocampus, eine Seepferdchen-ähnliche Struktur innerhalb des Gehirns, überführt bewusst gelernte Gedächtnisinhalte wie zum Beispiel neue Vokabeln vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis, und dies passiert vor allem im Schlaf. Bisher gingen Forscher jedoch davon aus, dass der Hippocampus nicht an allen Gedächtnisleistungen beteiligt ist und etwa motorische Fähigkeiten wie Klavierspielen ohne sein Zutun gelernt werden können. Nun haben Experimente mit Ratten ergeben, dass auch bei der Formung von Inhalten des Langzeitgedächtnisses, die ursprünglich ohne Beteiligung des Hippocampus entstanden waren, im Schlaf auf den Hippocampus zurückgegriffen wird. Die neue Studie unter der Leitung von Dr. Marion Inostroza und Professor Jan Born vom Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie sowie dem Centrum für Integrative Neurowissenschaften der Universität Tübingen wird in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht. Aus den neuen Ergebnissen entwickeln die Forscher die Vorstellung, dass die Gedächtnisbildung nicht in verteilten Systemen organisiert ist, die für sich arbeiten, sondern als ganzheitlicher Prozess abläuft, mit dem Hippocampus als übergeordneter Schaltzentrale.

In der Hirnforschung teilt man die Gedächtnisleistungen ein in solche, die vom Hippocampus abhängen wie zum Beispiel das Auswendiglernen eines Gedichts, und solche, an denen er nicht beteiligt ist, wie Skifahren oder Tennisspielen als Fertigkeiten, bei denen die einzelnen Bewegungen unbewusst ablaufen. Diese Unterscheidung geht vor allem auf den Patienten Henry Molaison zurück, dem in den 1950er Jahren wegen einer nicht behandelbaren Epilepsie große Teile des Hippocampus aus beiden Hirnhälften entfernt wurden. Die eingehende Untersuchung des Mannes ergab, welche Gedächtnisleistungen ohne Hippocampus erhalten bleiben und bei welchen Defizite auftreten. Forschungen insbesondere auch der Gruppe um Jan Born hatten gezeigt, dass für Hippocampus-abhängige Inhalte das langfristige Gedächtnis im Schlaf gebildet wird. „In den neuen, sehr aufwendigen Studien wollten wir wissen, ob das Hippocampus-unabhängige Gedächtnis in ganz ähnlicher Weise vom Schlaf profitiert und vor allem, ob dem Hippocampus dabei möglicherweise auch eine Bedeutung zukommt“, sagt Marion Inostroza.

Den Unterschied macht nicht der Schlaf allein

In den Experimenten lernten die Ratten entweder in einem Hippocampus-unabhängigen Prozess neue Objekte zu erkennen oder sie sollten sich beim Hippocampus-abhängigen Lernen die Positionen von ihnen gut bekannten Objekten in einem Raum merken. Es folgten zwei Stunden, in denen sie schliefen oder wach blieben. Dann wurde ihr Gedächtnis getestet, und zwar entweder sofort nach der zweistündigen Schlaf- beziehungsweise Wachphase oder eine Woche oder drei Wochen später. „Wie erwartet, wurde das Hippocampus-abhängige Lernen der räumlichen Positionen durch Schlaf gefestigt, die Tiere erzielten nach einer Schlafphase zu allen Testzeiten bessere Ergebnisse beim Erinnerungsvermögen als die Tiere, die nach dem Experiment wach geblieben waren“, sagt Marion Inostroza. Anders beim Gedächtnis für die Objekte: Hier ließ sich der Vorteil einer Schlaf- gegenüber einer Wachphase nach der Lernphase erst nach drei Wochen erkennen. „Den Unterschied macht aber nicht der Schlaf allein. Wenn wir in der Schlafphase nach dem Lernen den Hippocampus vorübergehend chemisch ausgeschaltet hatten, hatten die Ratten nach drei Wochen die Objekte wieder völlig vergessen, genauso wie die Tiere, die nach dem Lernen wach geblieben waren.“

„Die Inhalte des Hippocampus-unabhängigen Lernens kamen nur ins Langzeitgedächtnis, wenn der Hippocampus im Schlaf aktiv war“, fasst Jan Born die Ergebnisse zusammen. Er hält die seit rund 50 Jahren geltende Einteilung in Hippocampus-abhängige und -unabhängige Gedächtnisleistungen dennoch nicht für überholt. „Vielmehr gibt uns die Studie neue Einblicke in die arbeitsteiligen Strukturen im Gehirn. Zwar laufen einige der Lern- und Gedächtnisleistungen in eigenen Systemen. Doch müssen wir nun von dem Hippocampus als übergeordnete Instanz bei jeder Art der Bildung eines Langzeitgedächtnisses ausgehen.“ Die Wissenschaftler erläutern es so: Das Hippocampus-abhängige Lernen ist ans Bewusstsein gebunden, der Hippocampus tagsüber im wachen Zustand praktisch immer beschäftigt und ausgelastet. „Im Schlaf, in dem unser Bewusstsein ausgeschaltet ist, hat der Hippocampus Kapazitäten frei und organisiert die langfristige Gedächtnisbildung aller Inhalte, auch von denen, an deren Entstehung er zunächst nicht beteiligt war.“

Publikation:

Anuck Sawangjit, Carlos N. Oyanedel, Niels Niethard, Carolina Salazar, Jan Born and Marion Inostroza: Hippocampus is critical for forming non-hippocampal long-term memory during sleep. Nature, DOI 10.1038/s41586-018-0716-8