Nicht zu verhungern reicht nicht
Studie definiert die menschlichen Grundbedürfnisse neu und untersucht, für wen in Deutschland Kranksein zu einer finanziellen Belastung wird
Können sich die Menschen in Deutschland eine medizinische Versorgung leisten oder geraten sie im Krankheitsfalle in finanzielle Nöte? Dieser Frage gingen die TU-Professoren Dr. Martin Siegel und Dr. Reinhard Busse nach und kamen zu einem für das deutsche Gesundheitssystem positiven Befund. Im Vergleich mit den meisten anderen europäischen Ländern steht Deutschland gut da: Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist für gesetzlich Krankenversicherte weitgehend vom Einkommen der Haushalte getrennt und die wenigsten Haushalte haben wegen Gesundheitsausgaben finanzielle Engpässe.
„Aber“, schränkt Prof. Dr. Martin Siegel ein, „2,4 Prozent der befragten Haushalte gerieten 2013 durch Gesundheitsausgaben in finanzielle Schieflagen. Und hinter den 2,4 Prozent verbergen sich immerhin 1,6 Millionen Menschen.“ Diese 1,6 Millionen Menschen geben jeweils zwei Fünftel ihrer Zahlungsfähigkeit für ihre medizinische Versorgung aus. Zahlungsfähigkeit ist der Anteil des Einkommens, der nicht für die Deckung von Grundbedürfnissen verwendet wird. „Bei einem solchem Verhältnis sprechen wir Gesundheitsökonomen von ‚katastrophalen Gesundheitsausgaben‘“, erklärt Martin Siegel.
Prof. Dr. Martin Siegel leitet das Fachgebiet Empirische Gesundheitsökonomie und Prof. Dr. Reinhard Busse das Fachgebiet Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin. Für ihre Analyse nutzten die Wissenschaftler die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes. Alle fünf Jahre werden circa 40.000 Haushalte zu ihrer finanziellen Situation befragt: Diese führen dann für drei Monate ein Tagebuch über ihre Einnahmen und Ausgaben.
Die Studie, die Martin Siegel und Reinhard Busse für Deutschland erstellten, ist Teil des Reports des europäischen Regionalbüros der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der in 25 europäischen Ländern, inklusive Kirgisistan, der Ukraine und der Türkei, untersuchte, mit welchen finanziellen Belastungen es verbunden ist, wenn sich die Menschen in den jeweiligen Ländern medizinisch versorgen lassen wollen.
Miete oder Medikament
Neu an dem Report der WHO Europa ist, dass der Begriff des Existenzminimums, also der menschlichen Grundbedürfnisse, erstmals durch die WHO erweitert wurde. Zu den Grundbedürfnissen zählen nicht mehr nur notwendige Ausgaben für Essen und Trinken, sondern auch die notwendigen Ausgaben für Wohnen wurden mit herangezogen. Besonders niedrige und besonders hohe Ausgaben wurden dabei außenvorgelassen, um weder Mangel noch Luxus in die Berechnung einfließen zu lassen. So wurde errechnet, was nach Abzug der Kosten für Grundbedürfnisse als Zahlungsfähigkeit übrigbleibt. „Zu sagen, dass ein warmes Zuhause zu haben kein Grundbedürfnis sei, ist schlicht unmenschlich“, so Siegel.
Untersucht wurden die Jahre 2003, 2008 und 2013. Martin Siegel und Reinhard Busse stellten für Deutschland eine interessante Entwicklung fest. Waren 2003 1,8 Prozent der befragten Haushalte (hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung sind das 1,2 Millionen Menschen) in Deutschland von katastrophalen Gesundheitsausgaben betroffen, lag der Prozentsatz im Jahr 2008 bei 3,2 Prozent (hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung sind das 2,2 Millionen Menschen). „Das entspricht fast einer Verdopplung innerhalb von fünf Jahren“, so Martin Siegel. Am 1. Januar 2004 waren in Deutschland die Praxisgebühr von zehn Euro eingeführt und die Rezeptgebühr auf zehn Prozent des Arzneimittelabgabepreises, maximal zehn Euro, festgelegt worden.
Zwischen 2008 und 2013 verringerte sich der Prozentsatz der von katastrophalen Gesundheitsausgaben betroffenen Haushalte auf 2,4 Prozent. Am 1. Januar 2013 war die Praxisgebühr wieder abgeschafft worden. „In diesem Fall müsste analysiert werden, ob zwischen dem Wegfall der Praxisgebühr und der Verringerung der Anzahl der Haushalte, die übergebührlich viel von ihrer Zahlungsfähigkeit für medizinische Versorgung ausgeben müssen, ein direkter Zusammenhang besteht. Vermuten ließe es sich“, so Siegel.
Katastrophale Gesundheitsausgaben sind nicht per se ein „Arme-Leute-Problem“, werden es aber zunehmend. In der Studie wurde unterschieden, ob Haushalte „nur“ finanzielle Einschränkungen durch katastrophale Gesundheitsausgaben hatten, oder ob die Gesundheitsausgaben sogar zu einer Verarmung führten. Dabei gilt für Haushalte, die sich bereits unterhalb des Existenzminimums befinden, jede Ausgabe für Gesundheitsversorgung als katastrophal. Im Ergebnis bedeuteten katastrophale Gesundheitsausgaben 2003 für die Hälfte der betroffenen Haushalte eine Verarmung oder weitere Verarmung. Dieser Anteil hat sich deutlich erhöht, sodass in 2008 und 2013 für zwei Drittel der Haushalte nach übergebührlich hohen Gesundheitsausgaben weniger als das Existenzminimum übrigblieb. Mehr als die Hälfte der betroffenen Haushalte war im ärmsten Fünftel.
Das Existenzminimum wurde für diese Studie, anders als in den meisten offiziellen Statistiken üblich, anhand von tatsächlich getätigten Konsumausgaben für Grundbedürfnisse wie Essen, Miete, Heiz-, Wasser- und Stromkosten ermittelt. So wurde für Deutschland ein durchschnittliches monatliches Existenzminimum pro Kopf von 561 Euro für 2003, 633 Euro für 2008 und 682 für 2013 ermittelt. Dabei erklärt sich der Anstieg hauptsächlich durch die Ausgaben für das Wohnen: Die Ausgaben für Essen und Trinken waren beinahe konstant. Würde man das monatliche Existenzminimum, wie bisher üblich, nur anhand der Ausgaben für Essen und Trinken bestimmen, läge es pro Kopf bei 213 Euro für 2003, bei 228 Euro für 2008 und bei 238 Euro für 2013.
Die wichtigste Schlussfolgerung aus der Untersuchung ist für Martin Siegel und Reinhard Busse, dass die bürokratischen Hürden, um von der Zuzahlung zur Gesundheitsversorgung befreit zu werden, abgebaut werden müssen. Das Procedere, das den Betroffenen abverlangt werde, sei für diese oft nicht zu bewältigen. Für eine Zuzahlungsbefreiung müssen Betroffene bisher selbst nachweisen, dass ihre Ausgaben die Grenze von zwei Prozent des Bruttohaushaltseinkommens (ein Prozent für chronisch Kranke) übersteigen. „Mit den Daten, die die Krankenkassen erheben, sollte es eigentlich möglich sein, dass die Krankenkassen die Befreiung von sich aus gewähren, ohne dass Betroffene einen aufwendigen Antrag stellen müssen“, sagt Martin Siegel.
Der WHO-Bericht ist online unter:
http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0004/373585/Can-people-afford-to-…