Turbolader für die Zellmaschinerie
Forschende der Universität Bern haben in einzelligen Parasiten einen bislang noch nie beobachteten molekularen Regulationsmechanismus entdeckt. RNA-Fragmente fungieren dabei nicht als Bremsen im Zellapparat, sondern im Gegenteil als «Stimulanzien»: Sie kurbeln die Proteinfabrikation nach Stressperioden an.
Die molekularbiologische Grunderzählung folgt einer simplen Form: Gen-RNA-Protein. So hat man es in der Schule gelernt: DNA wird ausgelesen und zu RNA transkribiert. Diese dient in den Proteinfabriken (den sogenannten Ribosomen) gewissermassen als Lochkarte – die Proteine werden von der Maschinerie genau nach der DNA-Vorgabe zusammengesetzt. Ein einziger grosser Apparat kann so ganz verschiedene Proteine fertigen. In den letzten Jahrzehnten haben die Biologinnen und Biologen allerdings gemerkt, dass dieses Schema viel zu simpel ist, insbesondere was die Rolle der RNA angeht. Denn man hat immer mehr RNA gefunden, die keinen Code – also keine Protein-Bauanleitung – enthält. Inzwischen geht man davon aus, dass bei vielen Lebewesen der grösste Teil der durch Transkription gebildeten RNA «nichtcodierend» ist (sogenannte ncRNA). Beim Menschen sind es erstaunliche 98 Prozent. Warum wird so viel RNA transkribiert, die gar nicht dem «klassischen» Zweck dient? RNA ist offensichtlich nicht nur eine DNA-Blaupause, sondern übernimmt noch eine ganze Menge anderer Aufgaben in der Zelle.
Beschleuniger und Bremse in einem
Aber nicht nur die menschliche Biologie gibt weiterhin Rätsel auf. Besonders spannend finden Forschende zum Beispiel Trypanosomen, parasitäre Einzeller, die unter anderem für die Schlafkrankheit verantwortlich sind. Diese Mikroorganismen sind bekannt für ihren in vielfacher Hinsicht einzigartigen molekularbiologischen Apparat. Unlängst haben Forschende vom Departement für Chemie und Biochemie der Universität Bern einen besonders ungewöhnlichen Mechanismus entdeckt: Ein ncRNA-Molekül, das gewissermassen als Aufputschmittel für Ribosomen fungiert und das bei Stress produziert wird. Dies ist auch deshalb überraschend, weil bislang bloss die gegenteilige Funktion von nichtcodierender RNA bekannt war: nämlich als Bremse für den Zellapparat. Bei Stress lagern sich ncRNA-Moleküle an Ribosomen an und bedienen auf diese Weise gewissermassen den «Notaus-Schalter» der Proteinmaschinerie. Wenn Nährstoffe knapp werden oder die Umweltbedingungen schwierig werden, fährt so die ganze Montagelinie kurzerhand herunter: das verschafft der Zelle Zeit. ncRNA-Moleküle sind prädestiniert für solche Regulationsmechanismen – sie werden innert Bruchteilen von Minuten produziert und können so für eine viel raschere Reaktion der Zelle sorgen als über den Umweg eines Proteins.
Möglicher Therapieansatz
Aber eine Beschleunigung der Fabrikation? Das liess die Forschenden gleich in zweifacher Hinsicht stutzen: Erstens erschliesst sich nicht unmittelbar, was der Sinn einer solchen Regulation sein könnte, und zweitens ist es viel schwerer, für eine solche Funktionsweise mit einem einleuchtenden Mechanismus aufzuwarten. «Inhibitoren kannten wir, diese blockieren typischerweise wichtige Bindungsstellen», sagt Norbert Polacek, der Leiter der Forschungsgruppe – was aber wäre das Gegenteil von Sand im Getriebe? Im Rahmen des in Bern angesiedelten Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) «RNA and Disease» kollaborierte Polaceks Gruppe mit Trypanosom-Expertinnen und Experten der Gruppe von André Schneider und konnte so zeigen, dass die stimulierende Wirkung der RNA gewissermassen vorsorglich wirkt: Auf Stresssituationen folgen meist wieder «entspanntere» Zeiten, und dann kann es entscheidend sein, möglichst rasch wieder viele Proteine produzieren zu können. Das ncRNA-Fragment bewirkt, dass die Ribosomen ohne Zögern auf die volle Fabrikationsleistung heraufgefahren werden, sobald zum Beispiel wieder genügend Nährstoffe vorhanden sind – Polacek nennt es einen «Kickstart» für die Zelle.
Der genaue Mechanismus bleibt allerdings noch ungeklärt – da tut sich laut Polacek ein interessantes Feld für weitere Forschung auf. Bestenfalls führt die Entdeckung zu einer neuen Substanzklasse für die Behandlung von Trypanosom-Krankheiten. Denn die molekularbiologischen Extravaganzen der Trypanosomen machen sie auch verwundbar. Versteht man noch besser wie er funktioniert, lässt sich dieser Turbolader, so die Hoffnung, gezielt stören, und zwar auf eine für den Menschen vollkommen unschädliche Weise.
Die Ergebnisse der Studie wurden im Journal «Nature Communications» publiziert.
«RNA & Disease – Die Rolle von RNS in Krankheitsmechanismen»
Der Nationale Forschungsschwerpunkt «RNA & Disease – Die Rolle von RNS in Krankheitsmechanismen» widmet sich der Untersuchung der RNS (Ribonukleinsäure), die zentraler Drehpunkt vieler Lebensvorgänge ist und weit vielfältiger als ursprünglich angenommen. Sie definiert beispielsweise, wann und in welchen Zellen welche Gene aktiv oder inaktiv sind. Läuft bei dieser genetischen Regulation nicht alles rund, entstehen Krankheiten – etwa Herzerkrankungen, Krebs, Hirn- und Stoffwechselkrankheiten. Der NFS vereint Schweizer Forschungsgruppen, die sich mit verschiedenen Aspekten der RNS-Biologie in unterschiedlichen Organismen befassen. Heiminstitutionen sind die Universität Bern und die ETH Zürich.
Angaben zur Publikation:
Roger Fricker, Rebecca Brogli, Hannes Luidalepp, Leander Wyss, Michel Fasnacht, Oliver Joss, Marek Zywicki, Mark Helm, André Schneider, Marina Cristodero & Norbert Polacek: A tRNA half modulates translation as stress response in Trypanosoma brucei. Nature Communications, 10. Januar 2019, https://doi.org/10.1038/s41467-018-07949-6