Psychiatrie: Verlaufsnotizen weisen auf drohende Isolation hin
Anhand der Notizen, welche die betreuenden Fachkräfte über Psychiatriepatienten anfertigen, lässt sich eine drohende Zwangsmassnahme bereits im Voraus erkennen – möglicherweise auch durch automatisierte Textanalyse. Das berichten Forschende der Universität Basel und der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel im Fachblatt «Frontiers in Psychiatry».
Wenn von Psychiatriepatienten eine Gefahr für sich oder andere ausgeht, ist die Anwendung von Zwang manchmal nicht zu vermeiden. Massnahmen wie die Verlegung in ein Isolierzimmer oder die Zwangsmedikation gelten jedoch als letztes Mittel: Sie sind aus auf ein Minimum zu beschränken und ihre Anwendung ist streng reglementiert.
Warnzeichen früh erkennen
Bereits heute kommen verschiedene Mittel zum Einsatz, um ein Gewaltrisiko frühzeitig zu erkennen und so die Möglichkeit zur Deeskalation zu schaffen. Diese Instrumente fokussieren sich oft auf Patienteneigenschaften sowie die Handlungen zwischen Personal und Patient, gelten aber als nicht sehr zuverlässig.
Einen neuen Ansatz wählten Forschende der Universität Basel und der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel in einer aktuellen Studie. Sie suchten in den Verlaufsnotizen nach Anzeichen einer sich anbahnenden Eskalation. Darin dokumentiert das ärztliche, psychologische und pflegende Personal die Behandlung und den bisherigen Krankheitsverlauf.
Längere und emotionalere Notizen
Die retrospektive Untersuchung umfasste die Aufzeichnungen zu 26 erwachsenen Patienten, bei denen schliesslich eine Isolation notwendig wurde. Zum Vergleich wurde eine gleich grosse Patientengruppe mit identischer Krankheitsdiagnose herangezogen, bei der Zwangsmassnahmen ausblieben. Die Grundlage für die qualitative und quantitative Textanalyse bildeten die Notizen der drei Tage, die einer Eskalation vorangingen.
Es zeigte sich, dass die Verlaufsnotizen im Vorfeld einer Isolation umfangreicher waren, d.h. eine signifikant höhere Anzahl Wörter enthielten. «Es scheint, dass das behandelnde Personal ein problematisches Verhalten umfassender beschreibt, um den Informationstransfer zwischen den verschiedenen Schichten zu verbessern, anstehende Zwangsmassnahmen zu rechtfertigen und sich rechtlich abzusichern», so die Studienautorin Dr. Clara Stepanow.
Die qualitative Inhaltsanalyse ergab, dass das Gesundheitspersonal in den Tagen vor einer Isolation wesentlich häufiger subjektive emotionale Ausdrücke verwendete. In den an sich sachlich gehaltenen Notizen gaben die betreuenden Fachkräfte damit ihrer Besorgnis, Verängstigung und Mühsal Ausdruck.
Automatisierte Textanalyse möglich
Im Vorfeld einer Zwangsmassnahme wird das Verhalten der Patienten zudem oft mit negativen Begriffen wie «agitiert/angespannt», «reizbar» und «laut» beschrieben; die Bezeichnung «bedrohlich» kam ausschliesslich bei Patienten vor, die später isoliert wurden. Auch Ausdrücke wie «lenkbar/führbar» deuten auf eine schwierige Situation hin, welche aber vom Personal entschärft werden konnte. Als Vorboten einer Isolation erwiesen sich schliesslich Notizen, die Schlafverlust, Verweigerung von Medikamenten, hohe Kontaktfrequenz und ein anspruchsvolles Verhalten festhielten.
«Unsere Studie zeigt bisher wenig verwendete Faktoren auf, die nützlich sein können, um die Risikoeinschätzung zu verbessern», so der Studienleiter und Psychiater Prof. Dr. Christian Huber. «Wenn es gelingt, die subjektive Wahrnehmung der Gesundheitsfachleute auf geeignete Weise in die elektronische Dokumentationsroutine zu integrieren, könnte eine automatisierte Textanalyse zukünftig mithelfen, Zwangsmassnahmen durch eine rechtzeitige Intervention zu verhindern.»
Originalbeitrag
Clara Stepanow, Jefim Stepanow, Marc Walter, Stefan Borgwardt, Undine E. Lang, Christian G. Huber
Narrative Case Notes Have the Potential to Predict Seclusion Three Days in Advance: A Mixed-Method Analysis
Frontiers in Psychiatry (2019), doi: 10.3389/fpsyt.2019.00096