Mandelkern im Gehirn schützt vor Illusionen
Forscher der Uni Bonn zeigen, dass eine Hemmung der Amygdalae anfälliger für Täuschungen macht
Sind Strukturen des Mandelkerns (Amygdala) im Gehirn beeinträchtigt, stellen sich viel schneller und ausgeprägter Illusionen ein. Dies hat ein Forscherteam unter Leitung der Universität Bonn an eineiigen Zwillingen herausgefunden, bei denen beide Amygdalae geschädigt sind. Weitere Experimente mit Probanden zeigten, dass diese Hirnstruktur offenbar effektiv vor Körperwahrnehmungsstörungen schützt. Diese Erkenntnis aus der Grundlagenforschung ermöglicht vielleicht auch ein besseres Verständnis psychischer Erkrankungen. Die Ergebnisse sind vorab online in „The Journal of Neuroscience“ veröffentlicht. Die Druckfassung erscheint demnächst.
Bei der “Gummihand-Illusion” handelt es sich um eine klassische Sinnestäuschung, die auf Experimenten beruht, die 1998 von Matthew Botvinick und Jonathan D. Cohen veröffentlicht wurden. Die Versuchsperson legt beide Hände auf einen Tisch. Eine der Hände wird verdeckt und daneben eine täuschend echt wirkende Gummihand platziert. Anschließend werden gleichzeitig die echte Hand und die Gummihand mit einem Pinsel rhythmisch gestreichelt. Bei den allermeisten Probanden stellt sich nach einiger Zeit das Gefühl ein, dass die künstliche Hand ein Teil des eigenen Körpers ist.
Ein Team um Prof. Dr. René Hurlemann von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn (UKB) hat dieses Experiment an eineiigen Zwillingen durchgeführt, die beide am Urbach-Wiethe-Syndrom erkrankt sind. Bei der seltenen Erkrankung sind unter anderem in beiden Schläfenlappen des Gehirns die Mandelkerne (Amygdalae) defekt. „Als eine Folge ist bei den Zwillingen die Körperwahrnehmung beeinträchtigt“, berichtet Hurlemann. Prompt stellte sich bei den Zwillingsschwestern die Gummihand-Illusion besonders rasch und sehr ausgeprägt ein. Ein Jahr später widerholten die Forscher das Experiment an den Zwillingen – mit gleichem Ergebnis. Die Wissenschaftler vermuteten deshalb, dass die Amygdala eine wichtige Rolle zum Schutz vor Körperwahrnehmungsstörungen spielt.
Sinnestäuschung ist mit intakter Amygdala schwächer
Mit weiteren Experimenten verfolgten die Forscher diese Spur. Sie wiederholten das Experiment an einer Kontrollgruppe mit 20 gesunden Frauen. Dabei zeigte sich, dass es viel länger dauerte als bei den Zwillingen mit defekten Amygdalae, bis sich die Gummihand-Illusion einstellte. Wie sich anhand eines standardisierten Fragebogens zeigte, war darüber hinaus die Sinnestäuschung bei den Frauen mit intakten Amygdalae viel schwächer als bei den Zwillingen. „Bislang ist die Amygdala kaum mit der Gummihand-Illusion in Zusammenhang gebracht worden“, berichtet die Erstautorin Dr. Franny Spengler, die mehrere Jahre im Team von Prof. Hurlemann geforscht hat und dann an die Universität Freiburg gewechselt ist.
Im nächsten Schritt hat das Forscherteam am Bonner Universitätsklinikum mit einem Hirnscanner das Volumen der Amygdalae bei 57 Probanden (36 Frauen und 21 Männer) gemessen. Außerdem wurde erneut das Gummihand-Experiment durchgeführt und die Zeit gemessen, bis die Gummihand-Illusion auftrat. Ergebnis: Je kleiner die Amygdala, desto schneller stellte sich die Sinnestäuschung ein.
Oxytocin fördert Gummihand-Illusion
Anschließend verabreichten die Wissenschaftler den Probanden an zwei aufeinanderfolgenden Terminen ein Oxytocin-Spray und ein Placebo-Spray in die Nase. „Studien zeigen, dass das Hormon Oxytocin die Aktivität der Amygdala hemmt“, sagt Prof. Dr. Markus Heinrichs vom Institut für Psychologie der Universität Freiburg, der ebenfalls an der Studie beteiligt war. Das Oxytocin verstärkte die Gummihand-Illusion: Der Effekt trat viel schneller ein und war deutlich stärker als nach Placebo-Gabe. Heinrichs: „Offenbar mindert eine intakte Amygdala die Anfälligkeit für die Gummihand-Täuschung.“
Für Hurlemann deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass die Amygdala generell eine Schutzfunktion vor gestörter Körperwahrnehmung hat. „In der Literatur wurde die Amygdala häufig als ein Alarmmelder für äußere Gefahrenreize beschrieben“, berichtet der Wissenschaftler des UKB. „Neu ist, dass diese Hirnstruktur auch bei der Körperwahrnehmung eine große Rolle spielt.“ In der Evolution hat sich diese Schutzstruktur offenbar früh durchgesetzt: Als Jäger und Sammler, bedroht von wilden Tieren und feindlichen Sippen, hätte der Mensch wahrscheinlich kaum eine Überlebenschance gehabt, wenn er im Gefahrenfall unter Körperillusionen litte.
Die Wissenschaftler fragen sich nun, ob die Amygdala vielleicht auch bei Krankheiten eine Rolle spielt, die mit einem gestörten Körperschema zusammenhängen. Hurlemann: „Wir stehen am Anfang einer wichtigen wissenschaftlichen Spur, die vielleicht auch für psychische Erkrankungen eine Relevanz hat.“
Publikation: Franny B. Spengler, Dirk Scheele, Sabrina Kaiser, Markus Heinrichs, René Hurlemann, A protective mechanism against illusory perceptions is amygdala-dependent, The Journal of Neuroscience, DOI: https://doi.org/10.1523/JNEUROSCI.2577-18.2019
Bilder:
Der Abdruck im Zusammenhang mit der Nachricht ist kostenlos, dabei ist der angegebene Bildautor zu nennen.
Prof. Dr. Dr. René Hurlemann,
Stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn.
© Foto: Maya Claussen Photography
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