Chronischer Schlaganfall: Digitale Therapie mit „Suchtfaktor“
Zum Tag gegen den Schlaganfall am 10. Mai 2019 startet am Tübinger Zentrum für Neurologie ein neues Forschungsprojekt – Virtuelle Realität soll im Gehirn neue Aktivitätsmuster trainieren
Jedes Jahr erleiden in Deutschland rund 270.000 Personen einen Schlaganfall. In der neurologischen Therapie halten „Health Games“ immer mehr Einzug – digitale Spiele, die Spaß machen und gleichzeitig dafür sorgen, dass der Patient seine Defizite trainiert. Ein Team um Professor Dr. Ulf Ziemann am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und dem Universitätsklinikum Tübingen startet nun das Forschungsprojekt „Rehality“. Sie planen eine hochimmersive virtuelle Realität (VR) zu entwickeln, in der Schlaganfallpatienten wahrnehmen, wie sich ihr chronisch gelähmtes Körperteil bewegt. Das Besondere daran: Die virtuellen Bewegungen werden abhängig von der Gehirnaktivität gezeigt. Um sie in der VR-Brille zu sehen, müssen sich die Patienten die Bewegung mental vorstellen. Das soll das Gehirn anregen, sich umzustrukturieren und langfristig neue und effizientere Aktivitätsmuster zu speichern.
„Nehmen Patienten im virtuellen Raum wahr, wie sie eine gelähmte Hand bewegen können, so begünstigt diese Illusion die Reorganisation von Netzwerken im Gehirn und damit den Heilungsprozess“, so Studienleiter Ziemann. „Forschungsergebnisse zeigen außerdem, dass der Zustand des Gehirns zum Zeitpunkt der Stimulation entscheidend dafür ist, ob es zu einer plastischen Veränderung der Hirnnetzwerke kommt oder nicht“. Ziemann arbeitet daher seit Jahren an der sogenannten closed-loopStimulation. Dabei liest und wertet ein Elektroenzephalogramm (EEG) die Gehirnaktivität in Echtzeit aus. Die Daten erlauben dann im optimalen Zeitpunkt einzugreifen und das Gehirn zu stimulieren – in diesem Fall mit der Wahrnehmung und Durchführung einer Bewegung.
„Mit „Rehality“ soll der Patient in Bewegung gebracht werden. Dabei trainiert er neue Aktivitätsmuster im Gehirn. Langfristig sollen die Muster gestärkt werden, die effizient zu einer Bewegung führen“, erklärt Projektkoordinator Dr. Christoph Zrenner. Im virtuellen Raum sieht der Patient, wie sich etwa seine gelähmte Hand hebt. Der Trick: Durch das closed-loopParadigma wird ihm immer nur dann eine virtuelle Bewegung angezeigt, wenn der Proband tatsächlich mit maximaler Mühe versucht, die Hand zu bewegen.
Doch wie sieht das Aktivitätsmuster im Gehirn aus, wenn wir eine Hand heben? In der ersten Phase des Forschungsprojekts wird Fragen wie dieser auf den Grund gegangen und die wissenschaftlichen und technischen Grundlagen erforscht. Die klinischen Tests an Schlaganfallpatienten mit chronischen Lähmungen erfolgen dann im zweiten Schritt, der voraussichtlich Ende 2020 beginnt. „Bis „Rehality“ standardmäßig in der Therapie eingesetzt werden kann, dauert es noch einmal ein paar Jahre“, so Ziemann.
Langfristig soll die „Rehality“-Therapie die Versorgungslücke zwischen stationärer Akutbehandlung, Rehabilitation und Therapie daheim schließen. Das soll zum einen Kosten einsparen und zum anderen den erfolgreichen Wiedereinstieg in ein eigenständiges Leben und Erwerbsfähigkeit beschleunigen. „Damit wir dieses Ziel erreichen, muss „Rehality“ Spaß machen. Wir hoffen, dass es wie andere digitale Spiele eine Art Suchtfaktor mitbringt, der den Patienten gerne und lange trainieren lässt“, sagt Ziemann.
Grundsätzlich gilt: Je attraktiver das Spiel, desto größer der Trainingserfolg. Die Tübinger Wissenschaftler arbeiten daher eng mit dem Institut für Games an der Hochschule der Medien in Stuttgart zusammen, das die Entwicklung des Designs übernimmt. Die Firma VTplus GmbH in Würzburg bringt wiederum ihre Erfahrungen in der Umsetzung von VR-Systemen und Anwendungen zur Durchführung von Therapieforschung mit virtueller Realität ein. Passend zum Tag gegen den Schlaganfall findet am 10. Mai 2019 die Auftaktveranstaltung des nun vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 1,4 Millionen Euro bewilligten Verbundprojektes statt.
Infobox Schlaganfall
Bei einem Schlaganfall sterben Bereiche im Gehirn ab. Grund dafür ist in 80 Prozent eine Durchblutungsminderung (ischämischer Hirninfarkt), in 20 Prozent eine spontane Hirnblutung. Je nach betroffenem Gebiet kann es unter anderem zu Lähmungen kommen. Eine Physiotherapie hilft, die gelähmten Extremitäten zu reaktivieren. Sie zielt darauf ab, dass sich im Gehirn neue Verbindungen entwickeln und überlebende Nervenzellen die Aufgaben ihrer abgestorbenen Nachbarn übernehmen. Mit „Rehality“ möchten die Wissenschaftler diesen Prozess zusätzlich unterstützen.