Warum Arme und Beine gleich lang sind: Physiker finden Modell, welches das Längenwachstum in biologischen Systemen beschreibt
Es ist eines der bisher ungeklärten Rätsel der Naturwissenschaft: das Wachstum biologischer Systeme. Alle Lebewesen wachsen, vom Pantoffeltierchen bis zum Blauwal. Aber wie dieses Wachstum genau vonstatten geht, ist bisher ungeklärt und eine der fundamentalsten Fragen der Naturwissenschaft. Insbesondere die Frage, wann ein Organismus „weiß“, wann er das Wachstum einstellen muss, etwa um zu erreichen, dass beide Arme gleich lang sind, gab Forschern bisher Rätsel auf. Physiker der Universität des Saarlandes sind diesem Mechanismus nun auf die Spur gekommen. Sie haben ein mathematisches Modell entwickelt, mit dem sich das Wachstum biologischer Systeme präzise erklären lassen kann. Ihre Erkenntnisse haben sie im Fachmagazin „Physical Review E“ veröffentlicht.
„Großmutter, was hast du für große Ohren?“, lautet eine der bekanntesten Fragen der Literaturgeschichte, gestellt von Rotkäppchen, das den als Großmutter verkleideten Wolf argwöhnisch betrachtet. Wäre Rotkäppchen Physikerin gewesen, hätte es womöglich gefragt: „Großmutter, warum hast du zwei genau gleich lange Ohren?“ Über das „Längenproblem“ haben schon viele Physiker nachgedacht. Eine interessante Veröffentlichung dazu stammt vom Physik-Nobelpreisträger des Jahres 1998, Robert E. Laughlin. In „Das Längenproblem“ stellt er fest, dass seit langer Zeit keine signifikante Forschung zu der Frage stattgefunden hat, wie Organismen ihr Längenwachstum regulieren. Er formuliert die Annahme, dass sich Organismen im Grunde genommen selbst vermessen können und, wenn sie diese Information ermittelt haben, entsprechend reagieren können – also beispielsweise das Längenwachstum von Armen und Beinen einstellen können, wenn diese die „gewünschten“ Ausmaße erreicht haben.
Physiker der Universität des Saarlandes haben diesen Gedanken nun aufgegriffen und ein mathematisches Modell entwickelt, mit dem sich das Längenwachstum biologischer Systeme beschreiben lässt. Frederic Folz, der sich damit in seiner Masterarbeit auseinandergesetzt hat, hat diese Erkenntnisse nun gemeinsam mit der Professorin für Theoretische Quantenphysik, Giovanna Morigi, und dem Professor für Theoretische Biologische Physik, Karsten Kruse und seinem Doktorand Lukas Wettmann, im hochrangigen Journal „Physical Review E“ veröffentlicht.
Die Wissenschaftler haben dabei so genannte Axone als beispielhaftes Modellsystem betrachtet. Axone sind ein wesentlicher Bestandteil von Nervenzellen. Sie verbinden diese mit anderen Nervenzellen und leiten Signale weiter. Dabei variiert die Länge von Axonen sehr stark von wenigen Mikrometern bis hin zu mehreren Metern, was es umso deutlicher macht, dass der Organismus selbst die Länge der Axone regulieren können muss. „Es ist uns gelungen, ein Modell für einen Mechanismus zu entwickeln, der genau das ermöglicht. Dieses Modell ist nicht nur in der Lage zu erklären, wie Nervenzellen ihre eigene Länge bestimmen können, sondern er kann sogar auf andere biologische Systeme verallgemeinert werden“, erklärt Frederic Folz.
Chemische Botenstoffe in biologischen Systemen, die das Wachstum regulieren, verhalten sich dabei wie folgt: „Die Moleküle breiten sich in chemischen Wellen aus und werden von der Hülle angehalten, in unserem Beispiel vom Ende des Axons“, erläutert Physiker Folz. Ist die Frequenz hoch, in der die „Molekülwellen“ wieder am Ausgangspunkt ankommen, handelt es sich um eine kleine biologische Struktur, ist die Frequenz niedrig, ist sie groß. Ein Molekül braucht für wenige Mikrometer innerhalb eines Bakteriums weniger Zeit als von der Wurzel einer Eiche bis zur Baumkrone. Diesen Mechanismus haben die Physiker in ihrer Arbeit in einem mathematischen Modell beschrieben.
Die Forscher vermuten, dass ein biologisches System, also zum Beispiel ein Baum, ein Mensch oder eine Zelle, diese Schwingungen „messen“ kann und somit die Länge bestimmter Körperteile definieren und regulieren kann.
Ihre Arbeit könnte von grundlegender Bedeutung zum Beispiel für die weitere Erforschung verschiedener Krankheiten. „Unser Modell kann aber auch Einzug in die Elektronik finden, um verschiedene physikalische Größen zu regulieren“, erläutert Frederic Folz. Darüber hinaus enthält das Modell Elemente der Dynamik des Internets und allgemein von künstlichen Netzwerken und könnte als Grundlage für ihre (Weiter)Entwicklung dienen.
Frederic Folz, Lukas Wettmann, Giovanna Morigi, and Karsten Kruse: Sound of an axon’s growth. Physical Review E, https://doi.org/10.1103/PhysRevE.99.050401