STICA-Studie belegt: Spezielle Verhaltenstherapie bei Computerspiel- und Internetsucht erfolgreich
Erste multizentrische, randomisiert-kontrollierte Studie zeigt nachhaltige Behandlungserfolge
Computerspiel- und Internetsucht sind immer weiter verbreitet. Umso bedeutender sind daher die Erkenntnisse der sogenannten „Short-term Treatment of Internet- and Computer game Addiction“ (STICA)-Studie – der für diese Erkrankung bislang weltweit ersten internationalen, multizentrischen Behandlungsstudie. Die in der Juliausgabe der hochrangigen internationalen Fachzeitschrift „JAMA Psychiatry“ veröffentlichten Studienergebnisse belegen die Wirksamkeit einer strukturierten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Kurzzeitbehandlung von 15 Wochen. Das Ziel dieser an der Universitätsmedizin Mainz speziell für diese Suchtform entwickelten formalisierten Behandlungsmethodik besteht darin, die Ursachen für die Verhaltenssucht zu behandeln und einen selbstverantwortlichen Umgang mit dem Medium Internet zu erreichen.
Ein Großteil der Bevölkerung nutzt das Internet täglich für berufliche und/oder private Zwecke. Die dafür verwendete Zeit zu kontrollieren oder einzugrenzen, gelingt jedoch nicht allen und vor allem zunehmend weniger Nutzern. In der Folge können die Betroffenen ein problematisches oder sogar abhängiges Internetnutzungsverhalten entwickeln. Internetsüchtige sind in ihrem Denken und Handeln allein auf ihren Konsum fokussiert, werden unruhig und aggressiv (Entzugserscheinungen), wenn sie länger nicht spielen können und sie vernachlässigen ihre beruflichen Verpflichtungen und privaten Interessen, ihre nicht-virtuellen sozialen Kontakte und ihre körperlichen Bedürfnisse wie Schlaf, Essen und auch die Hygiene.
„Ziel der Behandlung ist es, die Persönlichkeit der Patienten zu stärken und sie somit in die Lage zu versetzen, zu kontrollieren, ob und wie lange sie online sind“, erklärt Studienkoordinator Dr. Klaus Wölfling, seit 2008 Leiter der Ambulanz für Spielsucht der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. „Zu diesem Zweck hat die Mainzer Ambulanz für Spielsucht bereits vor einigen Jahren eine neuartige, speziell abgestimmte Verhaltenstherapie entwickelt. Die genauen Wirkmechanismen und Effekte dieses speziellen Behandlungsprogramms haben wir dann im Rahmen der Multicenter-Studie ‚Short-term Treatment of Internet- and Computer game Addiction‘ (STICA) untersucht. Die Ergebnisse belegen, dass das Behandlungsprogramm für eine breite Spanne von Internetsüchten wirksam ist. Neben der Computerspielsucht sind dies vor allem Onlinesexsucht und die suchtartige Nutzung sozialer Netzwerke.“
An der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten STICA-Studie waren neben Wissenschaftlern der Mainzer Ambulanz für Spielsucht (Koordination) auch Forscher des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, des Universitätsklinikums Tübingen, des Wiener Anton Proksch Instituts in Wien und des Interdisziplinären Zentrums für Klinische Studien (IZKS) der Universitätsmedizin Mainz beteiligt.
Für die gemeinsame Studie wendeten die Forscher folgende Methodik an: Die getestete verhaltenstherapeutische Kurzzeittherapie richtet sich an erwachsene, internetsüchtige Patienten. Die Patienten waren zwischen 17 und 52 (im Mittel 26) Jahre alt, verbrachten zu Beginn der Studie durchschnittlich pro Tag acht Stunden mit der problematischen Internetaktivität und wiesen erhebliche persönliche Einschränkungen und Leidensdruck durch das Suchtverhalten auf. Insgesamt 149 männliche Patienten wurden zufällig der STICA-Studiengruppe oder einer Wartekontrollgruppe zugewiesen. Im Rahmen des viermonatigen, in drei Phasen unterteilten untersuchten STICA-Behandlungsprogramms erhielten die Teilnehmer 15 Gruppen- und acht Einzelsitzungen. Inhalte dessen waren beispielsweise Psychoedukation, Motivationsaufbau, Stressverarbeitungsstrategien, Löschen bzw. Abschwächen alter Verhaltensmuster sowie verhaltenstherapeutische Techniken zur Rückfallprävention. Zu Behandlungsende waren 69 Prozent der Behandlungsgruppe, aber nur 24 Prozent der Kontrollgruppe erfolgreich austherapiert, d.h. sie erfüllten nicht mehr die Suchtkriterien.
„Wir haben während der Studie gelernt, dass zwei Bausteine der Therapie besonders relevant für deren Erfolg sind: Zum einen die Phase der Abstinenz und zum anderen die Konfrontation, auch Exposition genannt, mit dem Suchtmittel“, erklärt Studienkoordinator Dr. Klaus Wölfling.
„Mittels STICA ist es uns gelungen, die depressiven Symptome bei den Studienteilnehmern erheblich zu verringern, ihre psychische, soziale und berufliche Funktionsfähigkeit deutlich zu verbessern sowie sie zu befähigen, ihre täglichen Onlinezeiten auf ein gesundes Maß zu beschränken. Damit trägt unser Behandlungsprogramm dazu bei, die aktuell bestehende Versorgungslücke zu schließen und Betroffenen wirksame professionelle Hilfe anzubieten“, betont der Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz Univ.-Prof. Manfred Beutel.
Dr. Kai W. Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ambulanz für Spielsucht, erläutert: „Für die STICA-Studie haben wir uns auf männliche Patienten konzentriert, da sie 90 Prozent unseres Behandlungsklientels darstellen. In einem Folgeprojekt untersuchen wir aktuell, wie häufig welche Form der Internetsucht bei Frauen auftritt und mit welchen klinischen Besonderheiten hier zu rechnen ist.“
Verschiedene repräsentative epidemiologische Studien zeigen, dass Internetsucht in der Allgemeinbevölkerung kein seltenes Phänomen ist: die Prävalenzschätzungen reichen von 0,5 bis ein Prozent in der Allgemeinbevölkerung und höheren Raten in Hochrisikopopulationen. Wie individuell und gesellschaftlich bedeutend diese Erkrankung ist, hat auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erkannt und im Mai 2019 die Computerspielsucht als offizielle „Gaming Disorder“ Krankheit anerkannt.
Diese aktuelle Entwicklung, welche die Versorgungslandschaft entscheidend verändern wird, stellt auch ein zentrales Thema des Deutschen Suchtkongresses 2019 dar, der vom 16. bis 18. September 2019 in Mainz stattfinden wird. Er wird die Beiträge nationaler und internationaler Fachleute einem breiten Publikum zugänglich machen. Ausrichter des Deutschen Suchtkongresses 2019 sind in enger Kooperation die Deutsche Gesellschaft für Suchtpsychologie (dg sps), die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht) und die Ambulanz für Spielsucht der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz.
Weitere Informationen:
Bildunterschrift: Spezielle Verhaltenstherapie bei Computerspiel- und Internetsucht erfolgreich; Bildquelle: Michael Dreier (Universitätsmedizin Mainz)
Über die Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Die Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ist die einzige medizinische Einrichtung der Supramaximalversorgung in Rheinland-Pfalz und ein international anerkannter Wissenschaftsstandort. Sie umfasst mehr als 60 Kliniken, Institute und Abteilungen, die fächerübergreifend zusammenarbeiten. Hochspezialisierte Patientenversorgung, Forschung und Lehre bilden in der Universitätsmedizin Mainz eine untrennbare Einheit. Rund 3.400 Studierende der Medizin und Zahnmedizin werden in Mainz ausgebildet. Mit rund 8.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist die Universitätsmedizin zudem einer der größten Arbeitgeber der Region und ein wichtiger Wachstums- und Innovationsmotor. Weitere Informationen im Internet unter www.unimedizin-mainz.de
Über die Ambulanz für Spielsucht
Die „Grüsser-Sinopoli Ambulanz für Spielsucht“ des Kompetenzzentrums Verhaltenssucht der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz zählt zu den bundesweit führenden Einrichtungen auf dem Gebiet der Verhaltenssüchte. Sie war 2008 die erste ambulante Einrichtung mit einem gruppentherapeutischen Angebot für Computerspiel-/ Internetsüchtige und einer Beratungs-Hotline. Zudem weist sie eine langjährige Forschungsarbeit auf. Damit hat sie eine Vorreiterrolle bei der wissenschaftlichen Erforschung und Behandlung der Störungsbilder Glücksspiel-, Internet- und Computerspielsucht.