Glasknochenkrankheit: Neu entschlüsseltes Gen liefert Hinweis auf möglichen Behandlungsansatz
Internationales Forscherteam unter Federführung der Humangenetik an der Universitätsmedizin Göttingen mit neuen Erkenntnissen zur genetisch bedingten Erkrankung Osteogenesis imperfecta: Das Gen MESD beeinflusst wichtigen Signalweg für Knochenwachstum und –stärke. Veröffentlichung in „American Journal of Human Genetics“.
(umg) Extrem brüchig wie Glas sind die Knochen bei Menschen mit der genetisch bedingten Erkrankung Osteogenesis imperfecta (OI). Von der „Glasknochenkrankheit“ sind besonders Kinder, aber auch Erwachsene betroffen. Man kennt zwar bereits verschiedene Gene, in denen Veränderungen zu einer gestörten Knochenbildung und zur Entstehung der Glasknochenkrankheit führen können. Dennoch bleibt bei einigen Patient*innen der ursächliche Gendefekt bislang ungeklärt.
Unter Federführung der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Bernd Wollnik, Direktor des Instituts für Humangenetik der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), entdeckten Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Brasilien, Portugal, England und der Schweiz nun ein weiteres Gen, das bei der Entstehung der Glasknochenkrankheit eine Rolle spielt. Wenn das Gen MESD mutiert oder verändert ist, kann sich dies offenbar auf den WNT-Signalweg auswirken, der auch für Knochen-Wachstum und -stärke wichtig ist. Diese neuen Erkenntnisse eröffnen nach Ansicht der Forscher*innen für eine mögliche Behandlung neue Perspektiven. Wirkstoffe, die den WNT-Signalweg aktivieren, könnten sich als Therapie für bestimmte Patient*innen eignen. Die Forschungsergebnisse wurden im renommierten Fachjournal „American Journal of Human Genetics“veröffentlicht.
NEUE PERSPEKTIVE FÜR BEHANDLUNG
Eine Heilung der Glasknochenkrankheit ist bislang nicht möglich. Die Behandlung stützt sich auf die operative Behandlung, Physiotherapie und die medikamentöse Gabe von Bisphosphonaten. Bei den Patient*innen der aktuellen Studie zeigte ein Behandlungsversuch mit Bisphosphonaten jedoch keinen Erfolg. Für Prof. Bernd Wollnik eröffnen sich durch die Studienergebnisse auch im Hinblick auf die Behandlung solcher Patient*innen neue Perspektiven: „Unsere Zellexperimente liefern uns einen Hinweis auf einen möglichen neuen Behandlungsansatz: Wirkstoffe, die den WNT-Signalweg aktivieren, könnten sich demnach eventuell als Therapie für bestimmte Patient*innen eignen. Ein derartiges Medikament gibt es bereits und wird bei Patient*innen mit altersbedingter Osteoporose eingesetzt, um die Knochenbildung und -masse zu steigern“.
Originalpublikation: Autosomal Recessive Mutations in MESD Cause Osteogenesis Imperfecta. Moosa S, Yamamoto GL, Garbes L, Keupp K, Beleza-Meireles A, Moreno CA, Valadares ER, de Sousa SB, Maia S, Saraiva J, Honjo RS, Kim CA, Cabral de Menezes H, Lausch E, Lorini PV, Lamounier A Jr, Carniero TCB, Giunta C, Rohrbach M, Janner M, Semler O, Beleggia F, Li Y, Yigit G, Reintjes N, Altmüller J, Nürnberg P, Cavalcanti DP, Zabel B, Warman ML, Bertola DR, Wollnik B, Netzer C. Am J Hum Genet. 2019 Sep 20. pii: S0002-9297(19)30312-X. doi: 10.1016/j.ajhg.2019.08.008. [Epub ahead of print]
FORSCHUNGSERGEBNISSE IM DETAIL
Bei fünf Patient*innen mit fortschreitenden Verformungen des Skeletts, bei denen bereits im Mutterleib oder vor dem zweiten Lebensjahr zahlreiche Knochenbrüche aufgetreten waren, fanden die Forscher*innen Mutationen in einem neuen Gen: MESD. „Bei allen führten wir eine Exomsequenzierung durch. Wir analysierten gleichzeitig alle kodierenden Bereiche aller 19.000 Gene der menschlichen Erbinformation. Zuvor hatten wir ausgeschlossen, dass Veränderungen in einem der für die Glasknochenkrankheit bereits bekannten Gene in Frage kamen. Stattdessen trugen alle betroffenen Kinder jeweils eine Mutation in beiden Kopien des MESD-Gens. MESD wurde bislang noch mit keiner Erkrankung beim Menschen in Verbindung gebracht, aber wir wussten, dass es für den WNT-Signalweg wichtig ist. Damit hatten wir einen sehr viel versprechenden Kandidaten“, sagt Prof. Bernd Wollnik, einer der beiden Senior-Autoren der Publikation.
WNT-SIGNALWEG UND MESD-GEN
Der WNT-Signalweg ist ein Zusammenspiel aus verschiedenen Molekülen, die u.a. die Embryonalentwicklung, die Zelldifferenzierung und die Zellteilung regulieren. Das vom MESD-Gen kodierte Protein agiert dabei nicht direkt im WNT-Signalweg. Als so genanntes „Chaperon“ sorgt es indirekt über bestimmte Domänen in seiner Struktur dafür, dass spezifische WNT-Rezeptormoleküle, LRP5 und LRP6, die für ihre korrekte Funktion erforderliche Proteinfaltung einnehmen und in der Zelle vom Endoplasmatischen Retikulum zur Zellmembran gelangen.
In Experimenten mit unterschiedlichen Zellmodellen untersuchten die Forscher*innen, wie sich die gefundenen Mutationen auf Zellebene auswirken. Dabei zeigte sich, dass diese aufgrund ihrer spezifischen Lage innerhalb des Proteins zwar die Funktion von MESD herabsetzen, sie aber nicht komplett ausschalten. Dass der WNT-Signalweg eine Rolle für Knochenwachstum und -stärke spielt, war bereits belegt. Auch die Arbeitsgruppe um Prof. Bernd Wollnik hatte schon vor einigen Jahren nachgewiesen, dass mit WNT1 ein Baustein dieses Signalwegs für die Knochenbildung und die Funktion von Knochenzellen bedeutsam ist.
GLASKNOCHENKRANKHEIT
Die „Glasknochenkrankheit“ oder Osteogenesis imperfecta (OI) ist genetisch bedingt. Besonders Kinder, aber auch Erwachsene sind betroffen. Ihre Knochen brechen sehr leicht, oft sogar ohne erkennbare Ursache. Die Erkrankung kann unterschiedlich schwer ausgeprägt sein. Bei manchen Formen können auch weitere Merkmale, wie Kleinwuchs, Schwerhörigkeit, Skelettdeformationen, überdehnbare Gelenke, Kurzsichtigkeit, dazukommen. Es handelt sich um eine seltene Erkrankung, die vier bis sieben von 100.000 Menschen betrifft. Man kennt zwar bereits verschiedene Gene, in denen Veränderungen zu einer gestörten Knochenbildung und zur Entstehung von OI führen können, dennoch bleibt bei einigen Patient*innen der ursächliche Gendefekt bislang ungeklärt.
Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Bernd Wollnik am Institut für Humangenetik der UMG arbeitet intensiv an der Entschlüsselung ursächlicher Genveränderungen und molekularer Grundlagen von seltenen Erkrankungen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind dabei insbesondere Erkrankungen mit frühzeitig einsetzenden Alterungsprozessen (Progerien), Mikrozephalien sowie die biologischen Prozesse, die zur Instabilität des Genoms führen.