Muskelforschung: Kräftiger Kurswechsel
MDC-Forschende haben eine neue Unterform von Muskelstammzellen entdeckt. Die Fähigkeit neue Muskeln zu bilden und zu regenerieren, macht diese Zellen auch für die Entwicklung von Gentherapien interessant.
Wer die 285 Stufen hoch zur Aussichtsplattform der Berliner Siegessäule erklimmt, hat wahrscheinlich am nächsten Tag ziemlichen Muskelkater. Bei ungewohnten Bewegungsabläufen wie Treppen steigen oder bei Sport können Muskeln stark beansprucht werden. Dabei entstehen winzig kleine Risse in den Muskelfasern, die der Körper selbst reparieren kann.
Auch bei größeren Verletzungen aktivieren die Muskeln ein körpereigenes Regenerationsprogramm: Um die Muskelfasern herum sitzt ein Reservevorrat für beschädigte Muskelzellen, die Satellitenzellen. Sie bringen neue Muskelfasern hervor und können auf diese Weise den Muskel erneuern. Diese Fähigkeit bleibt Menschen bis ins hohe Alter erhalten. Forscherinnen und Forscher interessieren sich besonders für diese Zellen, weil daraus Therapieansätze für Menschen mit Muskelkrankheiten entstehen können.
Überschätztes Protein
Bislang nahmen viele Forschende an, dass ein bestimmtes Protein wichtig ist, damit sich Muskeln selbst erneuern können: der Transkriptionsfaktor PAX7. „Zellen, aus denen neue Muskeln entstehen können, bergen ein enormes Potenzial für die Entwicklung von Gentherapien bei Muskelschwund. Und PAX7 gilt eigentlich als charakteristisches Merkmal für muskelbildende Satellitenzellen“, sagt Professorin Simone Spuler. Die Wissenschaftlerin und Ärztin ist Arbeitsgruppenleiterin am Experimental and Clinical Research Center (ECRC), einer gemeinsamen Einrichtung des Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin, und leitet die MDC-Arbeitsgruppe „Myologie“. Ihr Team berichtet nun in der Fachzeitschrift „Nature Communications“, dass Muskeln aus Satellitenzellen auch ohne PAX7 entstehen und regenerieren können. Die Studie charakterisiert einen bislang unbekannten Subtypen an Satellitenzellen, der zukünftig bei der Entwicklung von Gentherapien aus Muskelstammzellen berücksichtigt werden sollte.
Für viele Forscherinnen und Forscher in seinem Bereich sei die Ergebnisse sicherlich überraschend, sagt Dr. Andreas Marg, leitender Wissenschaftler in Spulers Arbeitsgruppe und der Erstautor der Studie. Auch er selbst habe sich anfangs von der Annahme leiten lassen, der Transkriptionsfaktor sei entscheidend für die Muskelbildung. „Zuvor habe ich mich in meiner Forschung gezielt auf PAX7-positive Zellen konzentriert. Mit unseren Ergebnissen verlassen wir nun ausgetretene Pfade.“
Neue Muskeln trotz Mutation
Das Forschungsteam verdankt die überraschenden Ergebnisse einem kleinen Mädchen: Lavin leidet seit ihrer Geburt an einer erblichen Muskeldystrophie und ist die Protagonistin in der Studie. In Lavins Körper ist jeder einzelne Muskel angelegt, jedoch sehr klein ausgeprägt. Besonders die Muskulatur entlang der Wirbelsäule ist betroffen. Arme und Beine sind zwar kräftig, aber das Kind leidet an Atemschwäche und hat Schwierigkeiten, sich vornüber zu beugen und den Kopf gerade zu halten.
Genanalysen zeigen, dass bei Lavin das Gen für PAX7 zerstört ist, ihre Zellen können dieses Protein nicht herstellen. Dies fand 2017 das Universitätsklinikum in München heraus. Bald darauf wurden Spuler und Marg auf diese extrem seltene Mutation aufmerksam, die zuvor noch nicht beschrieben wurde. Lavin fuhr mit ihren Eltern nach Berlin zum Campus Buch, wo ihr die Wissenschaftler*innen Muskelgewebe entnahmen. Aus diesen Zellen sortierte Marg mit einem neu entwickelten Verfahren Lavins Satellitenzellen aus und pflanzte sie daraufhin Mäusen ein. Dabei stellte er fest, dass im Körper der Maus tatsächlich aus Lavins Zellen neue Muskelfasern entstanden sind – und das ganz ohne PAX7.
Spuler vermutet, dass PAX7 nicht für jede Zelle gleich wichtig ist. Dies würde erklären, warum Lavin zwar verhältnismäßig gut laufen und klettern kann, aber kaum Muskelkraft im Zwerchfall hat, was die Atemprobleme auslöst. „Mithilfe der Genschere CRISPR/Cas könnten wir vielleicht eine Gentherapie für Lavin entwickeln“, sagt Spuler. Um das defekte Gen zu reparieren, müsse die Genschere jedoch gezielt in den Zellen der axialen Muskulatur angewendet werden. Das ist bislang noch nicht möglich. Aber an der Reparatur von defekten Genen in Muskelzellen arbeitet die Arbeitsgruppe bereits sehr intensiv. Für Lavin und ihre Familie ist die Forschung in der AG Spuler ein kleiner Hoffnungsschimmer für eine geeignete Therapie.
Ein neuer Subtyp an Muskelstammzellen
Marg und Spuler arbeiteten für die Studie mit vielen Kolleginnen und Kollegen am MDC und aus dem Ausland zusammen. In der Arbeitsgruppe von Professor Nikolaus Rajewsky am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB) verglich das Team Lavins Zellen mit gespendeten Zellen von gesunden Menschen. Mit einer Einzelzellanalyse, die die Aktivität jeder Zelle individuell betrachtet, stießen die Forschenden so auf eine bislang unbekannte Zellpopulation: Bei etwa 20 Prozent der Spender*innen produziert die Mehrheit der aktivierten Satellitenzellen ebenfalls kein PAX7, obwohl die genetische Information in den Zellen vorhanden wäre. Stattdessen wies das Team in jenen Zellen, denen der Transkriptionsfaktor fehlt, etwas anderes nach: CLEC14A – ein Protein, dass in vielen Zellen der Blutgefäße vorkommt. Genau dieses Protein war bei Lavins Muskelstammzellen besonders stark ausgeprägt.
Die neue Studie präsentiert eine bisher unbekannte Unterform von Satellitenzellen: Erstens identifizierten die Forschenden jene Zellen innerhalb der Stammzellnische, der Ort wo sich die Satellitenzellen befinden. Zweitens kommt PAX7 in diesen Zellen nicht vor. Drittens sind dafür andere charakteristische Proteine wie CLEC14A vorhanden. Und viertens können aus dieser Zellpopulation neue Muskelfasern entstehen.
Für Gentherapieforschung mit Satellitenzellen wurden bislang nur Zellen mit PAX7 berücksichtigt. Die neue Studie zeigt jetzt, dass auch der entdeckte Subtyp für die Entwicklung von Therapien in Frage kommt.
Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin
Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) wurde 1992 in Berlin gegründet. Es ist nach dem deutsch-amerikanischen Physiker Max Delbrück benannt, dem 1969 der Nobelpreis für Physiologie und Medizin verliehen wurde. Aufgabe des MDC ist die Erforschung molekularer Mechanismen, um die Ursachen von Krankheiten zu verstehen und sie besser zu diagnostizieren, verhüten und wirksam bekämpfen zu können. Dabei kooperiert das MDC mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin und dem Berlin Institute of Health (BIH ) sowie mit nationalen Partnern, z.B. dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DHZK), und zahlreichen internationalen Forschungseinrichtungen. Am MDC arbeiten mehr als 1.600 Beschäftigte und Gäste aus nahezu 60 Ländern; davon sind fast 1.300 in der Wissenschaft tätig. Es wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Berlin finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren.
Originalpublikation:
Marg, et al. (2019): „Human muscle-derived CLEC14A-positive cells regenerate muscle independent of PAX7“, Nature Communications, DOI: 10.1038/s41467-019-13650-z
https://www.nature.com/articles/s41467-019-13650-z
Weitere Informationen:
https://www.mdc-berlin.de/de/spuler#t-profil Arbeitsgruppe Spuler
https://www.mdc-berlin.de/de/ecrc Klinische Forschung am ECRC
https://www.mdc-berlin.de/de/news/news/hart-im-nehmen-humane-muskelstammzellen Hart im Nehmen – Humane Muskelstammzellen