Von den Bären lernen

Grizzlybären verbringen viele Monate im Winterschlaf, ohne dass ihre Muskeln unter der fehlenden Bewegung leiden. Wie ihnen das gelingt, berichtet ein Team um Michael Gotthardt im Fachblatt „Scientific Reports“. Die Strategien der Bären könnten helfen, Muskelschwund auch beim Menschen vorzubeugen.

Ein Grizzlybär kennt eigentlich nur drei Jahreszeiten. Seine aktive Zeit beginnt zwischen März und Mai. Um den September herum fängt der Bär an, große Mengen zu fressen. Und irgendwann zwischen November und Januar fällt er in den Winterschlaf. Aus physiologischer Sicht ist diese Zeit die merkwürdigste. Der Stoffwechsel und der Herzschlag des Bären sinken rapide. Er scheidet weder Urin noch Fäkalien aus. Die Menge an Stickstoff im Blut steigt drastisch und zudem wird der Grizzlybär resistent gegenüber dem Hormon Insulin.

Ein Mensch würde diese rund viermonatige Phase kaum gesund überstehen. Er oder sie hätte im Anschluss womöglich mit Thrombosen oder auch psychischen Veränderungen zu kämpfen. Vor allem aber würden die Muskeln unter der langen Auszeit leiden. Das weiß jeder, der schon einmal einen Arm oder ein Bein für ein paar Wochen in Gips hatte oder wegen einer Krankheit längere Zeit im Bett liegen musste.

Ein bisschen träge, aber ansonsten wohlauf

Nicht so der Grizzlybär: Im Frühling erwacht er aus seinem Winterschlaf, ist zunächst vielleicht noch ein bisschen träge, aber ansonsten rundum wohlauf. Schon lange interessiert sich daher eine Vielzahl von Wissenschaftler*innen für die Strategien des Bären, mit denen sich das Tier an seine drei Jahreszeiten anpasst.

Wie es die Muskeln schaffen, den Winterschlaf praktisch unbeschadet zu überstehen, hat jetzt ein Team um Professor Michael Gotthardt, den Leiter der Arbeitsgruppe „Neuromuskuläre und kardiovaskuläre Zellbiologie“ am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin untersucht. Dabei interessierten sich die Forscherinnen und Forscher aus Berlin, Greifswald und den USA insbesondere für die Frage, welche Gene in den Muskelzellen der Bären abgelesen und in Proteine umgesetzt werden und welchen Effekt das auf die Zellen ausübt.

Die Tricks der Natur verstehen und kopieren

„Muskelschwund ist beim Menschen ein echtes Problem, das unter vielen Umständen auftritt. Wir sind noch immer nicht sonderlich gut darin, ihm vorzubeugen“, sagt die Erstautorin der Studie, Dr. Douaa Mugahid, die einst Mitglied in Gotthardts Arbeitsgruppe war und inzwischen als Postdoc im Labor von Professor Marc Kirschner vom Department of Systems Biology der Harvard Medical School in Boston forscht.

„Die Schönheit unserer Arbeit bestand für mich darin, zu lernen, wie die Natur eine Möglichkeit perfektioniert hat, den Muskel unter den schwierigen Bedingungen des Winterschlafs zu erhalten“, sagt Mugahid. „Wenn wir diese Strategien besser verstehen, könnten wir nicht-intuitive und neuartige Methoden entwickeln, um Muskelschwund bei Patientinnen und Patienten besser zu verhindern und zu behandeln.“

Per Gensequenzierung und Massenspektrometrie

Um den Tricks der Bären auf die Spur zu kommen, untersuchte das Team um Mugahid und Gotthardt Muskelproben von Grizzlybären während und außerhalb des Winterschlafs, die sie von der Washington State University zur Verfügung gestellt bekommen hatten. „Wir wollten durch die Kombination moderner Sequenziermethoden und Massenspektrometrie ermitteln, welche Gene und Proteine während und außerhalb des Winterschlafs hochreguliert oder heruntergefahren werden“, erklärt Gotthardt.

„Diese Aufgabe erwies sich als knifflig – schon allein deshalb, weil weder das vollständige Genom noch das Proteom, also die Gesamtheit aller Proteine, des Grizzlybären bekannt waren“, sagt der MDC-Forscher. In einem weiteren Schritt planten er und sein Team, die erhaltenen Befunde mit Beobachtungen bei Menschen, Mäusen und Fadenwürmern abzugleichen.

Nicht-essenzielle Aminosäuren ließen Muskelzellen wachsen

Wie die Forscher*innen in der Fachzeitschrift „Scientific Reports“ berichten, fanden sie bei ihren Experimenten auf Proteine, die während des Winterschlafs der Bären deren Aminosäurestoffwechsel stark beeinflussen. Dadurch befinden sich in den Muskelzellen erhöhte Mengen bestimmter nicht-essenzieller Aminosäuren (non-essential amino acids, NEAA).

„In Experimenten mit isolierten Muskelzellen von Menschen und Mäusen mit Muskelschwund ließen sich auch diese Zellen durch die NEAA zum Wachstum anregen“, sagt Gotthardt. Aus früheren klinischen Studien wisse man allerdings, dass die Gabe der Aminosäuren in Form von Tabletten oder Pulvern nicht ausreiche, um Muskelschwund bei älteren oder bettlägerigen Menschen zu verhindern.

„Offenbar ist es von Bedeutung, dass der Muskel diese Aminosäuren selbst produziert – ansonsten gelangen sie womöglich nicht an die Orte, an denen sie gebraucht werden“, spekuliert der MDC-Forscher. Dennoch könne der Versuch, den menschlichen Muskel in längeren Ruhephasen dazu zu bringen, die NEAA durch Aktivierung der entsprechenden Stoffwechselwege mit geeigneten Wirkstoffen selbst herzustellen, ein Ansatzpunkt für eine Therapie sein.

Gewebeproben von bettlägerigen Menschen

Um herauszufinden, welche Signalwege dazu im Muskel angeschaltet werden müssen, verglich das Team um Gotthardt die Aktivität der Gene bei Grizzlybären, Menschen und Mäusen. Die dafür erforderlichen Daten kamen beispielsweise von alten oder bettlägerigen Patient*innen und von Mäusen, die an Muskelschwund litten – etwa infolge reduzierter Bewegung nach Anlegen eines Gipsverbandes. „Auf diese Weise wollten wir erfahren, welche Gene bei Lebewesen, die Winterschlaf halten, und solchen, die es nicht tun, unterschiedlich reguliert sind“, erklärt Gotthardt.

Dabei stießen die Wissenschaftler*innen allerdings auf eine ganze Reihe solcher Gene. Um die möglichen Kandidaten, die Ansatzpunkt für eine Therapie gegen Muskelschwund sein könnten, weiter einzugrenzen, führte das Team im Anschluss Experimente mit Fadenwürmern durch. „Beim Wurm lassen sich einzelne Gene relativ leicht ausschalten und man kann schnell sehen, welche Effekte das auf das Wachstum seiner Muskeln hat“, erläutert Gotthardt.

Ein Gen für circadiane Rhythmen

Mithilfe dieser Experimente hat sein Team nun eine knappe Handvoll von Genen gefunden, deren Einfluss sie in künftigen Arbeiten an Mäusen weiter untersuchen wollen. Mit dabei sind beispielsweise die Gene Pdk4 und Serpinf1, die am Glukose- und Aminosäurestoffwechsel beteiligt sind, sowie das Gen Rora, das zur Entstehung circadianer Rhythmen beiträgt. „Wir werden nun als Nächstes schauen, welche Effekte es hat, wenn wir diese Gene ausschalten“, sagt Gotthardt. „Denn als Angriffspunkt für eine Therapie eignen sie sich natürlich nur dann, wenn das keine oder nur wenige Nebenwirkungen hat.“ (bro)

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) wurde 1992 in Berlin gegründet. Es ist nach dem deutsch-amerikanischen Physiker Max Delbrück benannt, dem 1969 der Nobelpreis für Physiologie und Medizin verliehen wurde. Aufgabe des MDC ist die Erforschung molekularer Mechanismen, um die Ursachen von Krankheiten zu verstehen und sie besser zu diagnostizieren, verhüten und wirksam bekämpfen zu können. Dabei kooperiert das MDC mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin und dem Berlin Institute of Health (BIH ) sowie mit nationalen Partnern, z.B. dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DHZK), und zahlreichen internationalen Forschungseinrichtungen. Am MDC arbeiten mehr als 1.600 Beschäftigte und Gäste aus nahezu 60 Ländern; davon sind fast 1.300 in der Wissenschaft tätig. Es wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Berlin finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren. www.mdc-berlin.de

Originalpublikation:

Douaa Mugahid et al. (2019): „Proteomic and Transcriptomic Changes in Hibernating Grizzly Bears Reveal Metabolic and Signaling Pathways that Protect against Muscle Atrophy“, Scientific Reports, DOI: 10.1038/s41598-019-56007-8.