Röntgenlaser liefert Struktur eines Schlüsselenzyms des Erregers Trypanosoma brucei
Lübecker Biochemiker an potentiellem neuen Therapie-Ansatz gegen Schlafkrankheit beteiligt
Mit ultrahellen Röntgenblitzen hat ein internationales Forscherteam um Lars Redecke von der Universität zu Lübeck und dem Deutschen Elektronen Synchrotron (DESY), Micheal Duszenko von der Universität Tübingen, Christian Betzel von der Universität Hamburg, und Henry Chapman von DESY einen möglichen Angriffspunkt für neue Medikamente gegen die Schlafkrankheit aufgespürt: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die detaillierte räumliche Struktur eines lebenswichtigen Enzyms des Erregers entschlüsselt. Das Ergebnis liefert Hinweise auf einen möglichen Bauplan für einen Wirkstoff, der dieses Enzym gezielt blockiert und den Erreger somit absterben lässt, wie das Team im Fachblatt „Nature Communications“ berichtet.
Die Schlafkrankheit wird vom Parasiten Trypanosoma brucei ausgelöst, der mit dem Stich der im südlichen Afrika heimischen Tsetse-Fliege übertragen wird. Nach Vermehrung unter der Haut, im Blut und im Lymphsystem wandert der Parasit dann in das zentrale Nervensystem. Unbehandelt gilt die Krankheit als tödlich. Durch intensive Kontrollmaßnahmen ist die Zahl der registrierten Fälle in den vergangenen Jahren drastisch gesunken. Dennoch rechnet das Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin die Infektion weiter zu den wichtigsten Tropenkrankheiten. Rund 65 Millionen Menschen in 36 afrikanischen Ländern südlich der Sahara leben im Risikogebiet. Krieg, Vertreibung und Migration lassen die Infektionskrankheit nach Angaben des Instituts immer wieder neu aufflammen.
Auf der Suche nach einem möglichen Ansatzpunkt für Medikamente gegen den Erreger hatten die Forscherinnen und Forscher ein zentrales Enzym des Einzellers ins Visier genommen, die sogenannte Inosin-5′-Monophosphat-Dehydrogenase (IMPDH). „Dieses Enzym gehört zum zentralen Inventar jedes Organismus und ist ein interessantes Ziel für Medikamente, weil es den Haushalt zweier lebenswichtiger Nukleotide in der Zelle regelt: Guanosindiphosphat und Guanosintriphosphat“, sagt der Strukturbiologe Lars Redecke von der Universität Lübeck und DESY, einer der beiden Hauptautoren der Arbeit. „Die Zelle braucht diese Nukleotide zur Energieversorgung und zum Aufbau größerer Strukturen wie dem Erbgut. Wenn man diesen Zyklus unterbricht, stirbt die Zelle.“
Das Enzym besitzt eine Art Ein- und Ausschalter, der durch das Andocken zelleigener Moleküle aktiviert wird. Ein vielversprechender Weg ist, diesen Schalter mit einem passgenau maßgeschneiderten Molekül zu blockieren. Um so ein Blockademolekül zu konstruieren, muss die genaue räumliche Struktur des Schalters bekannt sein. Strukturbiologen können die Struktur von Biomolekülen mit Hilfe von Röntgenstrahlung bestimmen. Dazu lassen sie aus den Biomolekülen zunächst kleine Kristalle wachsen, die dann im Röntgenlicht charakteristische Streumuster erzeugen, aus denen sich die Struktur des Kristalls und seiner Bausteine, der Biomoleküle, berechnen lässt.
Dieser Weg ist oft kompliziert, denn die meisten Biomoleküle lassen sich nur schwer kristallisieren, da dies in der Regel ihrer natürlichen Funktion widerspricht. Gelingt die Zucht solcher Kristalle, sind sie gegenüber der energiereichen Röntgenstrahlung meist sehr empfindlich und werden schnell zerstört. Es sind zwar bereits die Strukturen zahlreicher IMP-Dehydrogenasen von anderen Organismen bekannt, bei jener des Parasiten Trypanosoma brucei war die Kristallzucht bislang jedoch nicht erfolgreich.
Das Team wählte daher einen alternativen Weg, die Kristallisation von Proteinen in lebenden Insektenzellen, auch als in-cellulo-Kristallisation bezeichnet. Mit diesem Ansatz hatte dasselbe Team bereits ein anderes Enzym des Schlafkrankheit-Erregers entschlüsselt, Cathepsin B, das ebenfalls einen potenziellen Angriffspunkt für Medikamente darstellt. Tatsächlich produzierten die veränderten Insektenzellen auch Kristalle der nun untersuchten IMP-Dehydrogenase. Diese winzigen, nadelförmigen Kristalle wurden rund 5 Mikrometer dick und bis zu 70 Mikrometer lang, so dass sie aus den produzierenden Zellen herausstachen.
Die in-cellulo-Kristalle sind so klein, dass sehr helles Röntgenlicht nötig ist, um sie zu analysieren. Denn je größer ein Kristall ist, desto besser wird das Streubild im Röntgenlicht. Die Forscher nutzten daher zur Analyse den Röntgenlaser LCLS am US-Forschungszentrum SLAC in Kalifornien, der intensive Röntgen-Blitze erzeugt. Zwar verdampfen die empfindlichen Kristalle sofort, erzeugen zuvor aber noch ein Streubild, aus dem sich die Struktur gewinnen lässt. Diese Methode heißt serielle Femtosekunden-Kristallographie (SFX), und viele der Ko-Autorinnen und Ko-Autoren der aktuellen Studie waren an der Entwicklung dieser Technik beteiligt, die vom US-Fachjournal „Science“ als einer der zehn wichtigsten wissenschaftlichen Durchbrüche des Jahres 2013 eingestuft worden war.
Das Team zeichnete die Streubilder von mehr als 22 000 Mikrokristallen auf und konnte daraus die räumliche Struktur des Enzyms mit einer Genauigkeit von 0,28 Nanometer berechnen. Das Ergebnis zeigt nicht nur die genaue Struktur des Enzym-Schalters, der Bateman-Region, sondern auch, mit welchen Molekülen die Zelle das Enzym schaltet und wie diese sogenannten Ko-Faktoren an dem Enzymschalter andocken. Der Schalter wird demnach von den Molekülen Adenosintriphosphat (ATP) und Guanosinmonophosphat (GMP) bedient. Der Vorteil des hier gewählten Ansatzes ist nicht nur, dass das Enzym bei Raumtemperatur untersuchen werden konnte, also bei der Temperatur, für die das Enzym gemacht ist, sondern auch, dass bei der in-cellulo-Kristallisation die natürlichen, in der Zelle vorhandenen Ko-Faktoren an das Enzym gebunden werden.
Die Daten könnten nun einen Ansatz für eine Blockade der Parasiten-Dehydrogenase liefern. Eine Herausforderung bleibt dabei jedoch noch, den Dehydrogenase-Blocker so spezifisch zu konstruieren, dass er das Parasiten-Enzym blockiert, aber nicht das menscheneigene. Wenn dies gelingt, könnte die Methode möglicherweise auch auf andere Erreger ausgedehnt werden, da andere Parasiten einen sehr ähnlichen Aufbau der IMP-Dehydrogenase aufweisen.
An der Untersuchung waren die Universitäten Lübeck, Hamburg, und Tübingen, die russische Akademie der Wissenschaften, die Arizona State University, das Lawrence Livermore National Laboratory in den USA, das Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg, das US-Forschungszentrum SLAC, die Universität Göteborg und DESY beteiligt.
Originalpublikation:
In cellulo crystallization of Trypanosoma brucei IMP dehydrogenase enables the identification of genuine co-factors; Karol Nass, Lars Redecke et al.; „Nature Communications“, 2020; DOI: 10.1038/s41467-020-14484-w