Ein neuer Weg, um wissenschaftliche Fehlschlüsse zu vermeiden
Internationale Forschende stellen Konzept für innovative Kooperation vor
Um das aktuell verfügbare Wissen zu einem Gebiet verfügbar zu machen, fassen Wissenschaftler*innen Informationen aus mehreren Einzelstudien zusammen, zum Beispiel in Meta-Analyen oder Literaturübersichten. „Häufig findet dieser Prozess aber langsam und unkoordiniert statt und kann zu trügerischen Schlussfolgerungen führen“, sagt der Biologe Dr. Alfredo Sánchez-Tójar von der Universität Bielefeld. Gemeinsam mit Wissenschaftler*innen aus den USA, Australien und Südafrika präsentiert er das Konzept einer „Evidenzsynthese-Gemeinschaft“ in einem am gestrigen Montag (23.03.2020) erschienenen Artikel im Magazin „Nature Ecology and Evolution“.
Mit Evidenzsynthesen sind Zusammenführungen von Evidenzen (Erkenntnissen) aus der Forschung gemeint: Forschende überprüfen und integrieren dafür alle verfügbaren Artikel, um Forschungswissen zusammenzufassen und neue Hypothesen zu testen und zu generieren. „Der Prozess der Evidenzsynthese ist oft langsam und mühsam. Oft kommt es zu Verzerrungen, wenn nicht alle Studien verfügbar sind“, sagt Dr. Alfredo Sánchez-Tójar aus der Arbeitsgruppe Evolutionsbiologie. „Zudem veröffentlichen Wissenschaftler*innen nicht alle Daten. Diese erhobenen, aber nicht veröffentlichten Daten fließen dann nicht in eine Synthese-Studie ein. Dadurch arbeiten Forschende, die etwa Experimente zu einem Phänomen durchführen, und Synthese-Forschende lange an demselben Thema, ohne voneinander zu wissen.“
Sánchez-Tójar ist Postdoktorand im Sonderforschungsbereich „NC3“ der Universitäten Bielefeld, Münster und Jena, der die Teildisziplinen Verhaltensbiologie, Ökologie und Evolutionsbiologie verknüpft. In einer Synthese-Studie, die er 2018 durchführte, konnte er ein Lehrbuchbeispiel aus der Biologie widerlegen: Seit 1985 wurde davon ausgegangen, dass der soziale Rang derjenigen Spatzen höher ist, die ein größeres schwarzes Federlätzchen aufweisen. In einer Meta-Analyse rund 20 Jahre später wurde diese Annahme zunächst bestätigt. In der Studie von Sánchez-Tójar zehn Jahre später wurden zusätzlich unveröffentlichte Studien einbezogen und gezeigt, dass es zweifelhaft ist, ob das Lätzchen des Spatzens überhaupt eine Status-Bedeutung hat.
Zu wenig Kommunikation zwischen den Forschenden
„Dieser Fall hatte keine schlechten gesellschaftlichen Auswirkungen, aber es gibt auch Synthese-Studien in der Medizin, die zu falschen Annahmen kommen. Wir finden immer mehr Beispiele dafür, dass Forschungsergebnisse in nachfolgenden Studien nicht mehr bestätigt werden können oder dass die Aussagekraft schwächer ist als in der ursprünglichen Studie“, sagt Sánchez-Tójar. „Zudem fehlen nicht nur Daten, sondern es werden auch systematische Überprüfungen wiederholt.“ Sánchez-Tójar sieht darin das Problem mangelnder Kommunikation zwischen den Forschenden.
In einer Gruppe interdisziplinärer Wissenschaftler*innen aus aller Welt entwickelte Sánchez-Tójar im April 2019 vier Tage beim „Evidence Synthesis Hackathon“ in Canberra, Australien, einen Vorschlag, wie Synthese-Studien besser durchgeführt werden können. Die Grundidee ist, Wissenschaftler*innen, die mit Beobachtungen und Experimenten arbeiten (Empiriker*innen), mit den Forschenden zusammenzubringen, die Meta-Analysen durchführen (Synthesist*innen). „Wir wollen die Methode der Evidenzsynthese und insgesamt das Vorgehen der Wissenschaft verbessern und schlagen daher in unserem Artikel vor, eine Gemeinschaft aus Empiriker*innen und Synthesist*innen aufzubauen“, sagt Sánchez-Tójar. „Diese Zukunftsvision soll in allen Bereichen anwendbar sein und ist, wenn sie sich durchsetzt, revolutionär.“
Zukunftsvision einer offenen „Synthese-Gemeinschaft“
Sánchez-Tójar und die 21 anderen internationalen Autor*innen stellen sich ein neues Forschungssystem vor, in dem jede*r Empiriker*in als Teil einer weltweiten Gemeinschaft zur Evidenzsynthese beiträgt. Diese Gemeinschaft soll zum einen aus einer Gruppe von Forschenden bestehen, die sich mit eigenen Erhebungen oder der Synthese von Forschungsergebnissen befassen, aber zum anderen auch aus Bibliothekar*innen, Statistiker*innen und Computerprogrammierer*innen. „Wenn zum Beispiel eine Doktorandin die Auswirkungen der Entwaldung auf Insektengemeinschaften untersucht, führt sie Experimente durch, um Daten zu sammeln. In einem neuen Forschungssystem ist die Doktorandin auch in eine Synthesegemeinschaft eingebettet, die sich mit Entwaldung und verwandten Themen befasst“, sagt Sánchez-Tójar.
Diese Evidenzsynthese-Gemeinschaft soll nach Vorstellung der Forschenden durch digitale Werkzeuge unterstützt werden. „Die Synthese-Gemeinschaft soll alle Wissenschaftler*innen aus allen Labors, unabhängig von Ressourcen und Standorten, aufnehmen“, sagt Sánchez-Tójar. „Unser Ziel ist, dass Wissenschaftler*innen und die Öffentlichkeit auf die aktuellsten Beweise zu jedem Thema zugreifen und diese bewerten können.“ Über eine Online-Plattform sollen Forschende in Verbindung stehen und interessierte Laien frühen Einblick in laufende Forschung erhalten.
Originalveröffentlichung:
Shinichi Nakagawa, Adam G. Dunn, Malgorzata Lagisz, Alexandra Bannach-Brown, Eliza M. Grames, Alfredo Sánchez-Tójar, Rose E. O’Dea, Daniel W. A. Noble, Martin J. Westgate, Pieter A. Arnold, Stuart Barrow, Alison Bethel, Eve Cooper, Yong Zhi Foo, Sonya R. Geange, Emily Hennessy, Witness Mapanga, Kerrie Mengersen, Claudia Munera, Matthew J. Page, Vivian Welch and Neal R. Haddaway: A new ecosystem for evidence synthesis. Nature Ecology and Evolution, http://doi.org/10.1038/s41559-020-1153-2, erschienen am 23. März 2020.
Weitere Informationen:
- Website zum Evidence Synthesis Hackathon.
- Sperling-Studie: Alfredo Sánchez-Tójar, Shinichi Nakagawa, Moisès Sánchez-Fortún, Dominic A Martin, Sukanya Ramani, Antje Girndt, Veronika Bókony, Bart Kempenaers, András Liker, David F Westneat, Terry Burke, Julia Schroeder: Meta-analysis challenges a textbook example of status signalling and demonstrates publication bias. eLife, https://doi.org/10.7554/eLife.37385, erschienen am 13. November 2018.