„Niemand darf allein gelassen werden“
Der Corona-Virus stellt unsere Gesellschaft vor nie gekannte Herausforderungen und konfrontiert sie zugleich mit weitreichenden ethischen Konflikten. Einerseits geht es darum, die Pandemie zu bekämpfen und einzudämmen. Andererseits müssen die sozialen und ökonomischen Folgen wie Freiheitsbeschränkungen und Zwangsschließungen beachtet und kontinuierlich geprüft werden. Nicht zuletzt steht drohend die Frage im Raum, wer in einem Krisenfall intensivmedizinisch betreut wird und wer nicht. Zur Orientierung und als „Leitfaden“ für diesen schwierigen Prozess des Abwägens hat der Deutsche Ethikrat unter dem Titel „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ eine Ad-hoc-Empfehlung veröffentlicht. Die renommierte Hirnforscherin Prof. Katrin Amunts vom Jülicher Institut für Neurowissenschaften und Medizin ist stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats und erläutert in einem Interview die zentralen Punkte der Empfehlung.
Wo sieht der Ethikrat den ethischen Kernkonflikt der Corona-Krise?
Zum einen geht es darum, die drohende Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, zum anderen müssen wir aber darauf achten, schwerwiegende „Nebenwirkungen“ der Eindämmungsmaßnahmen für Bevölkerung und Gesellschaft abzuwenden oder zu mildern. Das bedeutet, dass wir sorgsam abwägen müssen und dabei die Grundprinzipien von Solidarität und Verantwortung nicht aus den Augen verlieren. Wir stehen vor der Frage, wie lange und in welchem Umfang eine Gesellschaft die Einschränkungen verkraftet, die wir gerade erleben. Die meisten Menschen sind gegenwärtig geduldig und verhalten sich solidarisch. Wir müssen aber auch darauf achten, dass das nicht überstrapaziert wird oder gar einzelne Gruppen allein gelassen oder benachteiligt werden, z.B. Behinderte.
Welche Aufgaben muss die Politik jetzt erfüllen, welche Rolle spielt die Wissenschaft?
Die Absicht des Ethikrats mit seiner Stellungnahme ist es, das Bewusstsein in Politik und Gesellschaft zu stärken, dass wir mit der Pandemie und ihren Folgen vor einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe stehen und den Blick auf die normativen Probleme zu schärfen, die auf uns zukommen. Die Rolle der Wissenschaft ist es dabei, Daten und Fakten zu liefern und zu beraten – mit den Erkenntnissen aus Epidemiologie, Virologie und Medizin, aber auch aus Mathematik, Wirtschafts- und Rechtwissenschaften sowie Ethik und Soziologie. Politische Entscheidungen müssen aber letztlich die treffen, die dafür gewählt wurden. Sie stehen in der Verantwortung.
Welche Antworten gibt das Papier auf mögliche Krisensituationen in der medizinischen Versorgung?
Die getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, dass es in der Corona-Krise nicht zu sogenannten Triage-Situationen kommt, wie sie ja auch in der Notfallmedizin vorkommen können. In diesen Momenten müssen Ärzte entscheiden, welcher Patient bei einem Mangel an Kapazitäten zuerst versorgt wird. Sollte es dazu kommen, dass die Zahl der Beatmungsgeräte nicht ausreicht, ist ein zentraler Punkt, dass der Staat nicht vorschreiben darf, wer in einem solchen extremen Krisenfall gerettet wird und wer nicht. Die Verantwortung für diese Entscheidung tragen die Mediziner selbst, entsprechend der allgemeinen ärztlichen Ethik und dem Recht. In Reaktion auf die Coronakrise sind Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften am 25. März verabschiedet worden, die eine wichtige Orientierung für Ärzte geben.
Ein Punkt, den wir in der Stellungnahme hervorgehoben haben: Auch in solch einer Situation darf ein Arzt nicht entscheiden, jemanden, der bereits an einem Beatmungsgerät hängt, wieder davon zu trennen, auch wenn ein anderer damit vielleicht eine größere Überlebenschance hätte. Diese Entscheidung wäre weder ethisch noch rechtlich gerechtfertigt.
Die Pandemie und ihre Auswirkungen verändern sich laufend. Welche begleitenden Maßnahmen empfiehlt der Ethikrat?
Gegenwärtig geht es in erster Linie darum, die Ausbreitung des Corona-Virus erheblich zu verlangsamen. Parallel dazu müssen wir aber auch ständig überprüfen, ob die Schutzmaßnahmen, die unsere Freiheit beschränken, wirksam sind, und ob sie noch nötig und sinnvoll sind. Und wir müssen Kriterien für die Entscheidung definieren, wann und wie wir zu einem einigermaßen normalen gesellschaftlichen und privaten Leben zurückkehren können. Neben diesen großen Linien steht Ende des Papiers eine Liste mit Empfehlungen im Einzelnen, darunter Erweiterung der Testkapazitäten, Forschung zu Impfstoffen und Therapeutika, aber auch zu den psychischen Folgen der Pandemie, weitere Modellentwicklung für Auswirkungen in unterschiedlichen Bereichen und Szenarien, sowie Schutz- und Isolationsstrategien für Risikogruppen. Es geht darum, die Folgeschäden der Krise in allen Bereichen möglichst gering zu halten.
Weitere Informationen:
Link zum vollständigen Wortlaut der Ad-hoc-Empfehlung: Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise
Übersicht zu Projekten mit Corona-Bezug unter Beteiligungs des Forschungszentrums Jülich: Gemeinsam die Corona-Krise bewältigen