Lebenszeichen: Corona-Pandemie wirft ethische Fragen auf
Moralische Entscheidungen in tragischen Situationen
Die Corona-Pandemie wirft vielfältige ethische Fragen auf. Aus schwer betroffenen Ländern wissen wir, dass ärztliches Personal immer wieder entscheiden muss, wer die verfügbaren medizinischen Ressourcen (etwa Beatmungsgeräte) erhält, wenn sie nicht für alle ausreichen. In der Medizin und in der Ethik sind solche Dilemmata seit langem bekannt, erklärt Prof. Dr. Bert Heinrichs vom Institut für Wissenschaft und Ethik der Universität Bonn in der Reihe „Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch“, in der Angehörige der Universität Bonn ganz persönliche Perspektiven auf die vom Coronavirus ausgelöste Situation darstellen.
Text: Prof. Dr. Bert Heinrichs
Unter dem Einfluss der Corona-Pandemie stellen sich vielfältige ethische Fragen. Eine Frage, die derzeit verständlicherweise besonders viel Aufmerksamkeit erfährt, lautet: Wie sollen Ärztinnen und Ärzte handeln, wenn die verfügbaren medizinischen Ressourcen (bspw. Beatmungsgeräte) nicht für alle ausreichen? Dabei handelt es sich keineswegs um eine neue Frage. Im Gegenteil, sie ist in der Medizin und in der Ethik seit langem bekannt. Seit jeher mussten Ärztinnen und Ärzte in Katastrophenfällen schnell existentielle Entscheidungen treffen und begrenzten Kapazitäten auf Einige konzentrieren und Anderen Hilfe versagen. Man nennt dies Triage. In einem gut ausgestatteten Gesundheitssystem wie dem deutschen ergeben sich Triage-Situationen glücklicherweise nur sehr selten. Das ist der Grund, warum die Frage nach dem ethisch richtigen Handeln in solchen Situationen in der breiten Öffentlichkeit bislang kaum eine Rolle gespielt hat. Dessen ungeachtet gibt es etablierte Protokolle, die in Triage-Situationen regelmäßig Anwendung finden. Darüber hinaus wird das allgemeinere Problem der gerechten Verteilung von knappen medizinischen Ressourcen seit vielen Jahren intensiv diskutiert. Im Laufe dieser Debatte sind teilweise detaillierte Lösungsansätze für einzelne Bereiche entwickelt worden. Das Problem der gerechten Verteilung von Spenderorganen ist ein Beispiel. Erkenntnisse aus diesem Bereich sowie Erfahrungen mit klassischen Triage-Situationen aus der Katastrophenmedizin können für die aktuelle Situation daher fruchtbar gemacht werden. Die grundsätzliche Frage nach dem richtigen Handeln in existentiellen Entscheidungssituationen bleibt indes schwierig.
Wie sollen Ärztinnen und Ärzte nun also handeln, wenn akut nicht genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen? Gibt es allgemeine ethische Regeln, nach denen sie sich richten können? Das Verlangen nach solchen Regeln ist jedenfalls mehr als verständlich. Ärztinnen und Ärzte würden durch solche Regeln moralisch entlastet. Die große Bürde der Entscheidung würde von ihnen genommen, wenn sie sich nach eindeutigen Verfahrensweisen richten könnten. Und auch für Patientinnen und Patienten könnte es beruhigend sein, wenn sie wüssten, wie in einer Situation der Knappheit entschieden wird. Schließlich erscheint es naheliegend, dass eine derart wichtige Frage in einer Demokratie öffentlich diskutiert und eine Antwort durch einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird. Dennoch ist das Verlangen nach klaren ethischen Regeln nur bedingt einlösbar.
Ein erster Grund liegt in der besonderen Beschaffenheit moralischer Entscheidungen. Moralische Entscheidungen müssen von einer Akteurin oder einem Akteur stets selbst verantwortet werden. Der Hinweis auf etablierte Regeln kann sie nicht oder nur sehr begrenzt entlasten. Dieser Gedanke klingt vielleicht zunächst einmal etwas abstrakt, ist aber bei näherem Hinsehen wohl vertraut: Wenn jemand ein Unrecht begeht und später zu seiner Rechtfertigung auf eine entsprechende Regel oder gar ein zur damaligen Zeit gültiges Gesetz verweist, wird man dies kaum gelten lassen. Wer sich an eine ungerechte Regel oder ein ungerechtes Gesetz hält, begeht klarer Weise moralisches Unrecht. Grundsätzlich gilt, dass die Verantwortung in letzter Konsequenz immer beim Handelnden selbst liegt. Eine moralische Entlastung durch Verweis auf eine Regel kann es nicht geben. Dieser Umstand macht es für all diejenigen, die existentielle Entscheidungen treffen müssen, so schwer. An einem bestimmten Punkt sind sie auf sich gestellt und niemand kann ihnen diese Last abnehmen. Das gilt insbesondere für Ärztinnen und Ärzte in Triage-Situationen. Selbst wenn Entscheidungsregeln etabliert werden — ob nun von medizinischen Fachgesellschaften oder gar vom demokratischen Souverän — können diese die moralische Verantwortung dem Einzelnen nicht abnehmen.
Wenn es schon keine moralische Entlastung für diejenigen gibt, die in existentiellen Situationen eine Entscheidung treffen müssen, so könnten allgemeine Regeln ihnen das Entscheiden dennoch leichter machen. In unübersichtlichen und angespannten Lagen fällt das besonnene Nachdenken jedem schwer. Es kann dann helfen, sich auf ausgearbeitete Verfahrensweisen zu verlassen und sich diese zu eigen zu machen. Aber auch eine solche kognitive Entlastung stößt an Grenzen. Regeln haben es an sich, dass sie allgemein und abstrakt formuliert sind. In einer konkreten Situation stellt sich daher stets die Frage, ob es sich um einen Fall handelt, der unter die Regel fällt, oder nicht. Die Beantwortung dieser Frage führt schnell zu begründeten Ausnahmen von der Regel und Ausnahmen von der Ausnahme. Wiederum zeigt sich, dass in schwierigen Situationen allgemeine Regeln nur bedingt hilfreich sind. In Triage-Situationen müssten Medizinerinnen und Medizinern zunächst entscheiden, ob ein Anwendungsfall der Regel vorliegt oder nicht. Die Beantwortung dieser Frage ist manchmal kaum leichter als die Beantwortung der ursprünglichen Frage, was zu tun ist.
Gibt es also keinerlei Orientierungshilfe für die Frage, wie Ärztinnen und Ärzte in Triage-Situationen handeln sollen? Das wäre sicher übertrieben. Die Medizinethik hat eine Reihe von ethischen Prinzipien entwickelt, die zur grundlegenden Analyse von Problemstellungen herangezogen werden können. Dazu zählen insbesondere die Prinzipien der Autonomie, des Nichtschadens, des Wohltuns sowie das Gerechtigkeitsprinzip. In Triage-Situationen ist vor allem das letzte Prinzip einschlägig. Als konkretere Kriterien für die Spezifizierung des Gerechtigkeitsprinzips können Dringlichkeit und Aussicht auf Erfolg herangezogen werden, die auch in der Verteilung von Spenderorganen eine wichtige Rolle spielen. Andere Kriterien wie etwa Herkunft, religiöse Überzeugung oder chronologisches Alter taugen nach weit geteilter Überzeugung hingegen nicht. Dringlichkeit und Aussicht auf Erfolg weisen allerdings nicht unbedingt in dieselbe Richtung. Während die Dringlichkeit der Behandlung bei einem Patienten sehr hoch sein kann, mag die Aussicht auf Erfolg bei einer anderen Patientin ungleich höher sein. Wenn nur ein Beatmungsgerät zur Verfügung steht, dann muss die Ärztin oder der Arzt entscheiden, wer es bekommt. Wenn keine oder nur sehr wenig Aussicht auf Erfolgt bei einem Patienten besteht, spricht das sicher dafür, das Beatmungsgerät dem anderen Patienten zu geben. Dies impliziert aber nicht, wie gelegentlich unterstellt wird, ein Urteil gegen das Leben des ersten Patienten. In vergleichbaren Fällen von Aussicht auf Heilungserfolg, ist die akute Dringlichkeit zu beachten. Es kann darüber hinaus weitere Überlegungen geben, die in die konkrete Entscheidung der Ärztin oder des Arztes einfließen. In extremen Situationen können dazu womöglich auch Kriterien wie die Wichtigkeit einer Person für andere oder für das weitere Funktionieren eines Gemeinwesens zählen. Dies mag für manchen nach kühlem Rationalismus oder gar nach krasser Unmenschlichkeit klingen. Tatsächlich spiegelt es aber nur die Tragik solcher Situationen wieder, der man nicht entkommt — auch nicht dadurch, dass man eine moralische Entscheidung verweigert indem man zufällige Faktoren wie etwa die Ankunftszeit im Krankenhaus zum allein ausschlaggebenden Kriterium macht. Auch dies wäre letztlich doch wieder eine moralische Entscheidung – aber sicher keine gut begründete.
Es gibt keine allgemein gültigen Regeln, die Triage-Situationen in kognitiver und moralischer Hinsicht gänzlich entschärfen können. Am Ende bleibt manchmal nichts als die Tragik des Menschlichen. Mit dieser Tragik müssen wir alle umgehen, vor allem aber diejenigen, die in solchen Situationen schwierige moralische Entscheidungen treffen müssen. Ein Mehr-Augen-Prinzip ist zur kognitiven wie moralischen Bewältigung solcher Situationen sicher hilfreich, wenn nicht gar unerlässlich. Klare Abläufe und Zuständigkeiten helfen zudem, die Unübersichtlichkeit in akuten Notfallsituationen zu mindern. Die Empfehlung, die die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin zusammen mit sechs weiteren Fachgesellschaften vor wenigen Tagen zu „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ veröffentlicht hat, ist vor diesem Hintergrund zu begrüßen – wie auch der Deutsche Ethikrat in seiner Ad hoc-Stellungnahme „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ bemerkt. Ungeachtet dessen müssen Ärztinnen und Ärzte vor Ort Entscheidungen treffen. Wir übrigen sollten sie dabei unterstützen — nicht, indem wir versuchen, mit vermeintlich allgemein gültigen Regeln die Tragik zum Verschwinden zu bringen, sondern indem wir die Schwere ihres Tuns anerkennen.
Aktuelle Stellungnahmen
Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin: Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie. Klinisch-ethische Empfehlungen. Von den Fachgesellschaften verabschiedete Fassung vom 25. März 2020: https://aem-online.de/fileadmin/user_upload/COVID-19_Ethik_Empfehlung-v2.pdf
Deutscher Ethikrat: Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Ad-hoc-Empfehlung. 27. März 2020: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf
Der Autor
Prof. Dr. Bert Heinrichs hat seit 2015 eine Professor für Ethik und Angewandte Ethik am Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE) der Universität Bonn inne. Erist Leiter der Arbeitsgruppe „Repräsentation und Modell“ im Institut für Ethik in den Neurowissenschaften (INM-8) am Forschungszentrum Jülich.
Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch
Unter dem Titel „Lebenszeichen – Wir bleiben im Gespräch!“ veröffentlicht die Universität Bonn Beiträge aus den Reihen ihrer Angehörigen, die unter dem Eindruck der Bekämpfung des Coronavirus und der daraus resultierenden Bedingungen entstanden sind. Sie will damit auch in schwierigen Zeiten den Diskurs aufrechterhalten und die universitäre Gemeinschaft stärken. In loser Folge erscheinen dazu auf dieser Website Beiträge von Universitätsangehörigen, die das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten, Dialoge in Gang setzen, Tipps und Denkanstöße austauschen wollen. Wer dazu beitragen möchte, wendet sich bitte an das Dezernat für Hochschulkommunikation, kommunikation@uni-bonn.de.