Corona-Pandemie: „Wir müssen auf Sicht fahren“
Die Nationalakademie Leopoldina und die Helmholtz-Gemeinschaft bewerten in aktuellen Stellungnahmen die Lage und geben Empfehlungen zum weiteren Vorgehen. Prof. Wolfgang Marquardt, Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Jülich und Mitautor bei beiden Stellungnahmen, äußert sich zu den skizzierten Strategien und ihrem Verhältnis zueinander.
Sie haben die Stellungnahme der Helmholtz-Gemeinschaft „Systemische Epidemiologische Analyse der COVID-19-Epidemie“ mit verfasst und ebenfalls an der Stellungnahme der Leopoldina „Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden“ mitgearbeitet. Was halten Sie für vordringlich, um die Pandemie in den Griff zu bekommen und in absehbarer Zeit wieder zu einer weitgehenden Normalität zurückkehren zu können?
Angesichts der bestehenden Wissenslücken über die Eigenschaften des Virus und der Ausbreitungsmechanismen der Epidemie lässt sich ein fester Fahrplan für eine Rückkehr zur Normalität in den nächsten Wochen auch dann nicht seriös festlegen, wenn man lediglich eine epidemiologische Perspektive einnehmen und alle weiteren wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkte außen vor lassen könnte. Wir müssen daher auf Sicht fahren und dabei die Eindämmung der Epidemie und die Vermeidung der Überlastung des Gesundheitssystems als oberstes Ziel im Blick behalten. Dazu muss die weitere Entwicklung beobachtet und die neu anfallenden Daten mit Hilfe epidemiologischer Simulationsmodelle immer wieder neu interpretiert und bewertet werden. Aus diesen Analysen lassen sich Schlüsse über die schrittweise Lockerung bestehender oder die Einführung alternativer Maßnahmen ziehen.
In der Stellungnahme der Helmholtz-Gemeinschaft wird eine Weiterführung der Kontaktbeschränkungen um weitere drei Wochen mit flankierenden begleitenden Maßnahmen als wünschenswert vorgeschlagen (Szenario 3). In der Stellungnahme der Leopoldina wird empfohlen, den Bildungsbereich und das öffentliche Leben schrittweise wieder zu öffnen, bzw. zu normalisieren. Widersprechen sich diese Aussagen?
Die Aussagen der Stellungnahme der Leopoldina vom 13. April 2020 unterstützen wir nachdrücklich. Die Leopoldina empfiehlt die schrittweise Normalisierung des öffentlichen Lebens unter bestimmten Voraussetzungen. Dazu gehören: „(1) Neuinfektionen stabilisieren sich auf niedrigem Niveau. (2) Es werden die notwendigen klinischen Reservekapazitäten aufgebaut und die Versorgung der anderen Patienten wieder regulär aufgenommen. (3) Die bekannten Schutzmaßnahmen […] werden diszipliniert eingehalten.“
Unsere Empfehlungen ergänzen die der Leopoldina und konkretisieren sie im Hinblick auf ein Monitoring des sogenannten Rt-Wertes, mit dem leitende Kriterien für die Lockerung von Maßnahmen generiert werden können. (Der Rt gibt an, wie viele Menschen durch eine erkrankte Person zu einem bestimmten Zeitpunkt infiziert werden können.) Mit der täglichen modellgestützten Neubewertung der Daten kann die Umsetzung der im Leopoldina-Papier vorgeschlagenen stufenweisen Rückkehr zur Normalität wirkungsvoll unterstützt werden.
An wen richten sich die Empfehlungen der Wissenschaft und warum sind sie aus Ihrer Sicht wichtig?
Beide Empfehlungen richten sich gleichermaßen an die Öffentlichkeit wie auch an die politischen Entscheidungsträger. Wir wollen gegenüber der Öffentlichkeit verdeutlichen, dass es keine einfache Lösung für die Bewältigung der COVID-19-Pandemie gibt und dass ein zu schnelles „Zurück zur Normalität“ sogar einen gegenläufigen Effekt haben und zu einer Verstärkung der Infektionswelle führen würde. Der Politik wollen wir eine wissenschaftsbasierte Unterstützung bei der schwierigen Abwägung von gesundheits-, sozial- und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten geben, die den politischen Entscheidungen vorausgehen müssen.
Weitere Informationen:
Stellungnahme der Helmholtz-Initiative „Systemische Epidemiologische Analyse der COVID-19-Epidemie“
Übersicht zur Corona-Forschung am Forschungszentrum Jülich