SARS-CoV-2 und HIV: Entscheidende Unterschiede
Interview:
Während der COVID-19 Pandemie gibt es auch Versuche, bestimmte HIV-Medikamente zur Linderung der SARS-CoV-2-Infektion einzusetzen. Vielversprechende Überlegungen führten zu der Annahme, diese Medikamente würden positive Effekte erzielen. Doch trotzdem die beiden Viren Gemeinsamkeiten aufweisen, gibt es entscheidende Unterschiede. Interview mit Mario Sarcletti, leitender Oberarzt im HIV / AIDS – Bereich der Universitätsklinik für Dermatologie und Venerologie.
Innsbruck, am 20.04.2020: Das HI-Virus (HIV, Human Immunodeficiency Virus) greift bestimmte Zellen (T-Lymphozyten) des menschlichen Immunsystems an. Eine unbehandelte HIV-Infektion führt zum Verlust dieser Immunzellen und damit zu einer verminderten Funktionsfähigkeit des Immunsystems. Von AIDS (Acquired Immunodeficiency Syndrome) spricht man, wenn infolge einer solchen Abwehrschwäche durch HIV ganz bestimmte Krankheiten auftreten. Fast alle dieser Krankheiten kommen bei Menschen mit normalem Immunsystem nicht vor. Ähnlichkeiten zu SARS-CoV-2 und COVID-19 können durchaus in den Sinn kommen, weil auch bei diesen Infektionen T-Lymphozyten geschädigt werden.
Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es äußerst wirksame Therapien gegen HIV, mit denen AIDS verhindert wird und die Betroffenen bei guter Lebensqualität eine fast normale Lebenserwartung haben. Neueste Studien zeigen, dass die HIV-Therapie derart wirksam ist, dass HIV-positive Menschen grundsätzlich nicht mehr ansteckend sind, sofern sie ihre HIV-Therapie wie verordnet einnehmen und ihre Virenlast nicht mehr nachweisbar ist. Die Therapien gegen das HI-Virus erweckten auch Hoffnungen, das neue Coronavirus SARS-CoV-2 gut zu bekämpfen. Was aus diesen Hoffnungen geworden ist, erklärt Mario Sarcletti,leitender Oberarzt im HIV / AIDS – Bereich der Universitätsklinik für Dermatologie und Venerologie (Direktor: Matthias Schmuth).
Haben das HI-Virus und das SARS-CoV-2 Ähnlichkeiten?
Mario Sarcletti: Beide Viren sind RNA-Viren. Die RNA ist eine besondere Form des genetischen Codes, während wir Menschen die DNA als genetischen Code haben. Trotzdem gibt es zwischen den beiden Virenarten ganz entscheidende Unterschiede: Bei beiden umgibt zwar eine Proteinkapsel die RNA, jedoch ist beim HIV der Vermehrungszyklus in der menschlichen Zelle komplexer. Ein weiterer Aspekt ist die unterschiedliche Ansteckungsart. Während es bei dem HI-Virus vergleichsweise schwieriger ist, sich anzustecken, nistet sich das SARS-CoV-2 auch im Rachenraum ein und kann so, etwa durch Niesen oder Husten, viel leichter verbreitet werden. Im Gegensatz zu SARS-CoV-2 wird das HI-Virus nicht durch Tröpfcheninfektion übertragen.
Was bedeuten diese Unterschiede in der Praxis?
Alle diese Viren brauchen in den Zellen einen Oberflächenmarker – Ausstülpungen, um die Zelle zu erkennen und um dort einzudringen. Während sich nun das SARS-CoV-2 mit einem bestimmten Protein auf seiner Hülle einen entsprechenden Rezeptor auf der Zelle sucht (dies ist der ACE2-Rezeptor, der auch hauptsächlich auf Lungenzellen zu finden ist), braucht hingegen das HI-Virus die sogenannte CD4-Ausstülpung auf den Zellen, um anzudocken. Auch in den Zellen reagieren die beiden Viren nur teilweise ähnlich: Grundsätzlich zwingen Viren, sobald sie ihre Erbsubstanz in die Zelle transportiert haben, die Zelle viele Viren zu produzieren. Beide Viren richten gerade bei den T-Lymphozyten, dem zellulären Abwehrbereich, Schaden an. HIV macht es über Jahre hinweg relativ langsam und nur bei einer bestimmten T-Lymphozyten-Gruppe, den Helferzellen. Hier unterscheiden sich die beiden Viren: Das HI-Virus programmiert die T-Lymphozyten um und breitet sich so im ganzen Körper aus. Das Besondere bei HIV ist, dass das Virus seine Erbsubtanz in den Zellen übersetzt und in unserer Erbsubstanz einbaut. Das ist in der Behandlung ein großes Problem, denn dieses eingebaute „Erbstück“ des Virus bekommt man aus unserer Erbsubstanz derzeit nicht mehr heraus. Das ist das Hauptproblem, weswegen HIV noch nicht heilbar ist. Das SARS-CoV-2 ist nicht fähig, seine Erbsubstanz in unsere einzubauen und die Infektion kann daher bei den meisten Menschen wirklich geheilt werden. Glücklicherweise verstärken sich HIV und SARS-CoV-2 nicht gegenseitig.
Es wird in absehbarer Zeit auch keine HIV-Impfung geben, obwohl seit 40 Jahren das Virus erforscht wird, dafür aber voraussichtlich relativ bald eine SARS-CoV-2-Impfung. Hat es auch damit zu tun, dass nun enorm viel Energie und Geld in die Erforschung des CoV-2 Virus gesteckt wird?
Weil wir wissen, dass nur eine Impfung HIV auf Dauer gänzlich bekämpfen kann, ist das Engagement bei der Entwicklung eines HIV-Impfstoffes seit Jahren extrem hoch. Sowohl was finanzielle Mittel als auch Energie und Man/Women-Power anbelangt. Es liegt eher, wie bereits beschrieben, in der biologischen Struktur der Viren selber. Wenn man es durch eine Impfung schafft, gegen das SARS-CoV-2 eine ausreichende Antikörperproduktion zustande zu bringen, dann ist davon auszugehen, dass sie vor dieser Virusinfektion schützen kann. Bei HIV ist zwar eine hohe Antikörperbildung vorhanden das schützt allerdings trotzdem nicht vor einem Fortschreiten der Erkrankung. Das entscheidende Hindernis ist auch, dass HIV sehr variabel ist und enorm viele Mutationen aufweist. HIV verändert sich sogar in derselben Person ständig. Das erschwert die Angreifbarkeit durch eine Impfung. Das SARS-CoV-2 mutiert aber sehr viel seltener als HIV.
Zu Beginn der Pandemie hat es Versuche gegeben, HIV-Medikamente bei COVID-19 anzuwenden. Was wurde daraus?
Das liegt wiederum an den Gemeinsamkeiten der Viren: Beide Viren haben Proteasen, die im Verlauf des Vermehrungszyklus eine wichtige Rolle spielen – bei SARS 2004 wurde beobachtet, dass ein bestimmter HIV Protease-Hemmer einen günstigen Effekt bei einer Infektion mit dem SARS Virus hatte. Nun besteht immer noch die Hoffnung, dass dieser Protease-Hemmer auch auf SARS-CoV-2 ebenso hemmend wirkt. Es gab Berichte, dass unter dem HIV Protease-Hemmer Kaletra (Lopinavir/Ritonavir) Verläufe von SARS-CoV-2 Infektionen etwas günstiger waren, andere Berichte wiederum haben das nicht bestätigen können. Eine kürzlich veröffentlichte Studie hat allerdings gezeigt, dass mit dem besagten Wirkstoff (Lopinavir/Ritonavir) keine wesentliche Verbesserung im Vergleich zur Standardtherapie registriert wurde (Beschrieben im New England Journal of Medicine). Die Proteasen der beiden Viren kommen zudem aus verschiedenen Protease-Familien. Sie sind in der Wirkung ähnlich, aber in der Struktur unterschiedlich. Das könnte die Erklärung sein, wieso das bei HIV wirksame Medikament bei SARS-CoV-2 nicht so wirksam ist.
PCR-Testungen können beide Viren nachweisen. Wieso aber ist beim SARS-CoV-2 der Antikörpertest so schwierig, während dieser beim HIV tadellos funktioniert?
Das Problem ist, dass es verschiedene Typen von Coronaviren gibt. Es gibt Corona-Antikörpertests, die nicht ganz klar zwischen harmlosen Coronaviren, von denen es auch einige gibt und die mit Erkältungserkrankungen einhergehen, und eben diesen gefährlichen Coronaviren, wie etwa dem SARS-CoV-2 unterscheiden können. Diese Spezifizität musste erst noch entwickelt werden. Allerdings sind die sicheren SARS-CoV-2 Antikörpertests schon bald auch in ausreichender Menge verfügbar.
Sind HIV PatientInnen besonders gefährdet?
Die Verbreitung der SARS-CoV-2 Infektion könnte nach den bisherigen Erfahrungen bei HIV Infizierten ähnlich wie bei HIV-negativen Menschen sein. Wir haben bis jetzt auch keine Daten, die zeigen, dass HIV-Infizierte Menschen anfälliger wären für die Erkrankung COVID-19 oder für besonders schwere Verläufe. Es könnte sogar sein, dass durch HIV abgeschwächte Abwehrmechanismen dem Zytokin-Sturm, der zu besonders schweren Verläufen von COVID-19 führt, entgegenwirken. Allerdings hängt ein höheres Risiko für schwere Verläufe von COVID-19 von bestimmten Faktoren, wie Alter oder bestimmten Vorerkrankungen ab. Wenn man sich nun die Population der HIV-infizierten Menschen anschaut, ist mehr als die Hälfte über 50 Jahre alt und ein großer Anteil bringt diese Risiko-Zusatzerkrankungen, wie etwa Bluthochdruck, Lungenveränderungen oder auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, mit. Daher gilt grundsätzlich das Gleiche wie bei den nicht-HIV-infizierten Menschen, nämlich die empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen gewissenhaft einzuhalten.
Soll man als HIV-PatienIn derzeit überhaupt Arzttermine wahrnehmen?
Wenn notwendig, unbedingt, um sogenannte Kollateralschäden zu vermeiden! Die getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 sind sehr wichtig. Was wir allerdings zusehends beobachten ist, dass Menschen, die andere Krankheiten haben, sich zum Teil nicht mehr in Krankenhäuser oder zum Arzt trauen. Das ist ein Problem, das wir angehen müssen. Als Arzt bzw. Ärztin müssen wir hellhörig sein und unsere PatientInnen dahingehend informieren, dass sie, wenn es notwendig ist, kommen sollen. Die Angst könnte nämlich zu sehr schweren Problemen führen. Bei HIV haben wir zwar das Glück, dass bei guten Therapien unsere PatientInnen relativ stabil sind und man bestimmte Termine durchaus auch einmal verschieben kann. Allerdings ist es wichtig, die Medikamententherapie immer fortzusetzen und bei Problemen einen ärztlichen Ansprechpartner zu haben und auch aufzusuchen. Wir müssen besonders Acht geben, dass PatientInnen, die etwas anderes als COVID-19 haben, keine nachhaltigen Probleme bekommen.
Details zur Medizinischen Universität Innsbruck
Die Medizinische Universität Innsbruck mit ihren rund 2.000 MitarbeiterInnen und ca. 3.300 Studierenden ist gemeinsam mit der Universität Innsbruck die größte Bildungs- und Forschungseinrichtung in Westösterreich und versteht sich als Landesuniversität für Tirol, Vorarlberg, Südtirol und Liechtenstein. An der Medizinischen Universität Innsbruck werden folgende Studienrichtungen angeboten: Humanmedizin und Zahnmedizin als Grundlage einer akademischen medizinischen Ausbildung und das PhD-Studium (Doktorat) als postgraduale Vertiefung des wissenschaftlichen Arbeitens. An das Studium der Human- oder Zahnmedizin kann außerdem der berufsbegleitende Clinical PhD angeschlossen werden.
Seit Herbst 2011 bietet die Medizinische Universität Innsbruck exklusiv in Österreich das Bachelorstudium „Molekulare Medizin“ an. Ab dem Wintersemester 2014/15 kann als weiterführende Ausbildung das Masterstudium „Molekulare Medizin“ absolviert werden.
Die Medizinische Universität Innsbruck ist in zahlreiche internationale Bildungs- und Forschungsprogramme sowie Netzwerke eingebunden. Schwerpunkte der Forschung liegen in den Bereichen Onkologie, Neurowissenschaften, Genetik, Epigenetik und Genomik sowie Infektiologie, Immunologie & Organ- und Gewebeersatz. Die wissenschaftliche Forschung an der Medizinischen Universität Innsbruck ist im hochkompetitiven Bereich der Forschungsförderung sowohl national auch international sehr erfolgreich.