Die Netzhaut sorgt nicht nur für scharfes, sondern auch für stabiles Sehen

Tübinger Forscher zeigen erstmals, dass die Millisekunden lange Blindheit bei der schnellen Bewegung der Augen, die flimmerfreies Sehen erlaubt, von der Netzhaut selbst ausgeht.

Wer schon einmal ein Video aufgenommen hat, weiß, dass man die Kamera ruhig halten muss, damit die Bildsequenzen nicht verwackeln. Während des natürlichen Sehvorgangs nehmen wir dagegen immer ein stabiles Bild wahr, obwohl sich die Augen bei der Suche nach neuen Eindrücken ständig hin und her bewegen und dabei ein verwackeltes Bild auf die Netzhaut werfen. Weil das Sehen aber während dieser kurzen Augenbewegungen für Millisekunden unterdrückt ist, wird diese Unstetigkeit nicht wahrgenommen. Die Tübinger Neurowissenschaftler Professor Ziad M. Hafed und Dr. Thomas Münch haben gemeinsam mit ihren Teams untersucht, wie die Bildstabilisierung gesteuert wird. Sie stellten fest, dass das Signal für die kurzen Sehunterdrückungen direkt von der Netzhaut und deren neuronaler Aktivität ausgeht. Ihre Studie ist in der Fachzeitschrift Nature Communications erschienen. Hafed leitet die Arbeitsgruppe „Aktive Wahrnehmung“ am Hertie-Institut für klinischen Hirnforschung (HIH), ist Forschungsgruppenleiter am Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der Universität Tübingen und Professor an der Medizinischen Fakultät. Münch ist Gruppenleiter am Forschungsinstitut für Augenheilkunde der Universität Tübingen und am CIN.

Damit ist erstmals eine stimmige Erklärung für das Phänomen der sakkadischen Unterdrückung gefunden worden. Sakkade ist der Begriff für die schnelle Bewegung der Augen. Bislang gab es zwei konkurrierende Hypothesen. Nach der ersten Hypothese sollte die Unterdrückung von den Motorsignalen ausgehen, die auch die Bewegung der Augen auslösen. Nach der zweiten Hypothese sollte die Unterdrückung rein visuell bedingt sein und von der Bildfolge auf der Netzhaut verursacht werden – was dann bedeuten würde, dass sich die verwackelten Bilder selbst korrigieren. Die Ergebnisse der Tübinger Forscher zeigen, dass die zweite Hypothese richtig ist, dass aber auch motorische Signale eine unerwartete Rolle spielen.

Die Schlussfolgerungen von Hafed, Münch und ihren Kollegen basieren auf verschiedenen Experimenten. Sie baten Probanden zunächst, auf hochaufgelöste, computergenerierte Aufnahmen von groben und feinen Oberflächen zu schauen, wobei die abgebildeten Texturen Ähnlichkeiten mit den normalerweise in Bildern vorhandenen Texturen hatten. Die Tübinger Wissenschaftler blendeten zudem kurze Lichtblitze unterschiedlicher Stärke ein, während die Probanden ihre Augen bewegten. Die Wissenschaftler machten die sakkadische Unterdrückung daran fest, wie hell die eingeblendeten Lichtblitze sein mussten, damit sie noch zu erkennen waren. Bei diesen Experimenten zeigte sich, dass die ultrakurze Blindheit von der angezeigten Textur abhing. Bei einer groben Textur war die Unterdrückung stärker, sie setzte früher ein und dauerte länger als bei einer feinen Textur. „Dass die Stärke und die Länge der Unterdrückung von den abgebildeten Texturen abhängig waren, kann nur bedeuten, dass der Auslöser visueller Natur sein muss“, sagt Hafed. „Das haben wir dann in vielen weiteren Untersuchungen bestätigt.“ Die Wissenschaftler konnten zudem zeigen, dass das Sehsignal bereits unterdrückt ist, wenn es das Auge verlässt. „Die Netzhaut trägt also direkt zu unserem stabilen Seheindruck bei“, sagt Münch. „Sie erkennt, dass die Welt vorbeirauscht, und reguliert die Empfindlichkeit für kurze Zeit herunter.“

Um den Einfluss der Augenbewegung selbst auszuloten, machten die Tübinger Wissenschaftler ein Experiment, bei dem die Probanden die Augen entweder in gewohnter Weise über ein Objekt bewegten oder aber die Augen stillhielten, während sich das Objekt bewegte. Die Bildfolgen auf der Netzhaut waren in beiden Fällen gleich, und in beiden Fällen kam es zu einer sakkadischen Unterdrückung. Allerdings war die Unterdrückung mit den echten Augenbewegungen viel kürzer. „Wir schließen daraus, dass das Bewegungssignal einen Unterschied bei der Dauer der sakkadischen Unterdrückung macht“, erläutern Saad Idrees und Matthias Baumann, die beiden Doktoranden, die die Experimente durchgeführt haben. „Das Bewegungssignal ist also noch relevant.“

Die Studienergebnisse sind auch für die Medizin von Relevanz. Vielleicht tragen sie dazu bei, Menschen zu helfen, die ihre Welt krankheitsbedingt nicht mehr stabil sehen können. „Das kann ein sehr belastendes Symptom sein, etwa bei Multipler Sklerose oder Parkinson“, so Hafed. „Vielleicht kann diesen Patienten eines Tages mit einer computergesteuerten Brille geholfen werden, die das instabile Bild wieder geraderückt.“

Originalpublikation
Idrees S., Baumann M.P., Franke F., Münch T.A., Hafed Z.M. (2020): Perceptual saccadic suppression starts in the retina, Nature Communications.
https://doi.org/10.1038/s41467-020-15890-w