Dynamische Massnahmen gegen das Coronavirus untersucht

Ein sich abwechselnder Zyklus von Eindämmungs- und Lockerungsmassnahmen könnte insbesondere in Entwicklungsländern eine pragmatische Lösung bieten, um eine Überlastung der Gesundheitssysteme zu verhindern, und gleichzeitig die Wirtschaft und Gesellschaft nicht zu stark zu belasten. Dies zeigt eine internationale Studie mit massgeblicher Beteiligung des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Bern.

Die Coronavirus-Pandemie hat die globalen Gesundheitssysteme, die Bevölkerung zahlreicher Länder und ihre Regierungen vor eine beispiellose Herausforderung gestellt. SARS-CoV-2, welches die Krankheit COVID-19 verursacht, wurde mit 4,8 Millionen bestätigten Fällen und mehr als 300’000 Todesopfern in beinahe jedem Land der Erde nachgewiesen.

Da es derzeit weder wirksame Behandlungen noch einen Impfstoff gegen COVID-19 gibt, konzentrieren sich die Strategien zur globalen Bekämpfung der Pandemie auf Interventionen, welche die Übertragung des Virus mit teils drastischen Massnahmen des Social Distancing bis hin zum Lockdown reduzieren. Während solche Massnahmen eine Überlastung der Gesundheitssysteme verhindern können, führen diese in vielen Ländern auch zu erheblichen wirtschaftlichen Kosten, finanzieller Unsicherheit und sozialen Problemen. Daher wächst die Sorge, dass langanhaltende Interventionen insbesondere in Entwicklungsländern nicht nachhaltig sein werden. Ein alternativer Ansatz könnte darin bestehen, verstärkte Massnahmen mit Intervallen einer Lockerung abzuwechseln. Es bleibt jedoch unklar, wie solche Intervalle aussehen müssten, um die Gesundheitssysteme unterschiedlicher Länder nicht zu überlasten.

Um diese Frage anzugehen, modellierte ein internationales Forscherteam, darunter Forschende der Universität Bern vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin ISPM und vom Center for Space and Habitability (CSH), drei Szenarien für 16 Länder – von Indien bis Kolumbien – die sich bezüglich der Kapazitäten ihrer Gesundheitssysteme und ihrer Bevölkerung unterscheiden. Ihre Ergebnisse werden heute im European Journal of Epidemiology veröffentlicht.

Diverse Szenarien berechnet
Im ersten Szenario werden keinerlei Massnahmen umgesetzt. Wie erwartet, würde die Anzahl der Patientinnen und Patienten, die eine intensivmedizinische Betreuung benötigen, die verfügbare Kapazität in jedem Land schnell massiv überschreiten. Die Epidemie würde sich in den meisten der berücksichtigten Länder über fast 200 Tage hinziehen, und zu einer hohen Anzahl von Todesfällen führen.

Das zweite Szenario berücksichtigt einen alternierenden Zyklus von 50-tägigen Abschwächungsmassnahmen, gefolgt von einer 30-tägigen Lockerung. Unter den berücksichtigten Parametern für die Reproduktionszahl R (die durchschnittliche Anzahl der Personen, welche eine infizierte Person ansteckt) würde auch diese Strategie nicht ausreichen, um eine Überlastung der Intensivstationen in den Spitälern zu verhindern. Denn nach der ersten Lockerung wären die Kapazitäten schnell wieder überschritten. In diesem Szenario würde die Pandemie in Ländern mit hohem Einkommen ungefähr 12 Monate, und in Ländern mit tieferem Einkommen ungefähr 18 Monate oder länger dauern.

Als letztes Szenario modellierten die Forschenden einen fortlaufenden Zyklus von starken Eindämmungsmassnahmen während 50 Tagen, gefolgt von einer wiederum 30-tägigen Lockerung. Mit einer solchen Strategie blieben die benötigten Plätze auf Intensivstationen in allen Ländern innerhalb der nationalen Kapazitäten. Obwohl dieser Ansatz die Dauer der Epidemie über 18 Monate hinweg verlängert, würde eine wesentlich geringere Anzahl Menschen an COVID-19 sterben.

Oscar Franco, Professor für Epidemiologie am Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Bern, fasst zusammen: «Unsere Studie zeigt Strategien auf, wie gewisse Länder einen zu starken Anstieg von COVID-19 und die daraus resultierende Überlastung ihrer Gesundheitssysteme längerfristig verhindern können.»

Massnahmen unter Berücksichtigung von Wirtschaft und Gesellschaft
Die Forschenden weisen drauf hin, dass ihre Studie nur ein illustrativer Vergleich von verschiedenen Interventionsstrategien bietet. Die Unsicherheiten, inwiefern welche Massnahmenpakete zu einem Rückgang oder Anstieg der Neuinfektionen führen, sind nach wie vor gross. Deshalb betonen die Autorinnen und Autoren, dass die spezifische Dauer der Interventionen von Ländern entsprechend ihren Bedürfnissen und lokalen Begebenheiten festgelegt werden müsste. Der Schlüssel bestehe darin, ein Muster zu finden, welches es ermöglicht, die Bevölkerung nicht nur vor COVID-19, sondern auch vor den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und psychischen Gesundheitsproblemen zu schützen.

«Eine abwechselnder Zyklus aus striktem Social Distancing und einer Lockerungsphase würde es der Bevölkerung und der Wirtschaft erlauben aufzuatmen, was insbesondere in ressourcenarmen Regionen nachhaltiger sein könnte», sagt Rajiv Chowdhury, Epidemiologe für Global Health an der Universität Cambridge und Hauptautor der Studie. Interfakultäre Zusammenarbeit an der Universität Bern Das interdisziplinäre Forschungsprojekt ist auch das Resultat einer neu begonnenen Zusammenarbeit zwischen dem ISPM und dem Center for Space and Habitability (CSH) der Universität Bern. «Diese Studie entstand aus einem Prozess, welcher vor einigen Monaten begann: Trotz der starken thematischen Unterschiede zwischen der Epidemiologie und der Astrophysik wenden beide Disziplinen ähnliche Methoden der numerischen Modellierung und Statistik an», sagt Kevin Heng, Professor für Astrophysik am CSH. «Unser Ziel ist es, eine interfakultäre Plattform zwischen den Naturwissenschaften und der Medizin auf der Grundlage solcher Methoden aufzubauen. Dies wird es ermöglichen, die Synergien zwischen dem ISPM und dem CSH fortlaufend zu nutzen.»

Derzeit keine Option für die Schweiz
Eine Reihe europäischer Länder befindet sich derzeit in der Phase der ersten Lockerungen nach dem Lockdown, so auch die Schweiz. Es wird nun versucht, mit einer breiten Testung und einem intensivierten Contact Tracing einen erneuten Anstieg der Infektionen trotz Lockerung der bisherigen Einschränkungen zu verhindern. «Idealerweise werden es diese zusätzlichen Massnahmen ermöglichen, die Lockerungen langfristig zu kompensieren, sodass die Anzahl der COVID-19-Infektionen durchgehend auf einem tiefen Niveau bleiben, ohne dabei grössere wirtschaftliche und gesellschaftliche Einbussen in Kauf zu nehme», sagt Christian Althaus, Forschungsgruppenleiter am ISPM und Ko-Autor der Studie. «Deshalb sind zyklische Interventionsstrategien für die Schweiz derzeit kein Thema.» Ob dies in allen Ländern der Welt jedoch möglich sein wird, bleibt abzuwarten. Bis dahin könnten die in der Studie beschriebenen zyklischen Strategien insbesondere für Entwicklungsländer eine vorerst pragmatische Lösung bieten.

Das Projekt wurde durch Horizon 2020, das Programm für Forschung und Innovation der Europäischen Union, unterstützt.

Publikationsangaben:
Chowdhury R, et al. Dynamic interventions to control COVID-19 pandemic: a multivariate prediction modelling study comparing 16 worldwide countries. Eur J Epidemiol 2020. https://link.springer.com/article/10.1007/s10654-020-00649-w