Zur Situation der Kinder und Jugendlichen während der Coronakrise
Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und der Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung
Vom 16. März 2020 bis 6. Mai waren Kitas, Kindergärten und Schulen in Deutschland geschlossen. Zwar wurde vielerorts eine Notbetreuung angeboten und seit dem 27. April 2020 traten einige Lockerungen in Kraft, doch betrifft erstere immer noch nur sehr wenige Kinder und letztere vorwiegend Schülerinnen und Schüler aus Abschlussklassen. Wenn überhaupt, findet Präsenzunterricht auch aktuell in den Schulen für viele Klassenstufen in sehr reduziertem Umfang statt. Ein geregelter Schulbetrieb oder eine regelhafte Betreuung in Kitas und Kindergärten ist bis zu den Sommerferien nicht geplant und für die Zeit danach aktuell nicht absehbar. Soziale Kontakte, die über die Kernfamilie hinausgehen, mussten vermieden werden und auch hier finden bislang nur zaghafte Lockerungen statt. Damit fallen für die gesellschaftliche Gruppe der Kinder, Jugendlichen und Familien vielfältige Bildungsangebote sowie die bisherigen sozialen Strukturen, die Möglichkeiten für Kontakte außerhalb des Elternhauses bieten, vollständig weg. Dieser Wegfall ist mit massiven Auswirkungen verbunden.
Soziale Beziehung werden belastet und Rollenvorbilder verändert!
- Soziale Kontakte sind für Kinder und Jugendliche entwicklungsrelevant. Gerade dieser Bereich ist jedoch aktuell massiv eingeschränkt und es fehlen Möglichkeiten, außerhalb der Kernfamilien soziale Anregungen und Unterstützung zu erfahren. Virtuelle Kontakte über soziale Medien können persönliche Treffen, gemeinsamen Sport, spielen, musizieren, basteln, malen etc. nicht ausgleichen. Eine solche Kontaktunterbrechung wird daher Konsequenzen auf die soziale Entwicklung nehmen. Dies betrifft in besonderem Maße sehr junge Kinder, die gerade beginnen, außerfamiliäre Bindungen aufzubauen. Besonders betroffen sind aber z. B. auch Kinder mit Behinderungen, die den Anschluss an ihre sozialen Bezugsgruppen oft viel schneller verlieren und in der Folge viel größere Hürden beim Wiederaufbau ihrer Beziehungen in Kauf nehmen müssen.
- Soziale Beziehungen werden nicht nur weitreichend reduziert, sondern auch zunehmend belastet. Aktuelle Studien der Universität Koblenz-Landau und des Deutschen Jugendinstituts zeigen, dass ein substantieller Anteil der befragten Eltern die Beziehung zu ihren Kindern durch die häusliche Beschulung als belastet ansehen. Hausaufgabensituationen gehören zu den häufigsten Problemfeldern zwischen Eltern und Kindern, die zu massiven Konflikten führen können. Durch die aktuelle Lage werden diese Situationen zum Regelfall, da die schulischen Strukturen inklusive der Nachmittagsbetreuung wegfallen.
- Familien mit Belastungen, z. B. Eltern von Kindern mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen und psychischen Beeinträchtigungen, aber auch ökonomischen Herausforderungen, erhalten aktuell keine bzw. kaum Unterstützung und müssen den Mehrbedarf, der über die fehlende Betreuung in Kita, Kindergarten oder Schule hinaus besteht, allein bewältigen. Dies führt zu vermehrtem Stress und den damit einhergehenden Begleiterscheinungen, wie beispielsweise Verschlechterung der Eltern-Kind-Interaktion, stressassoziierten Erkrankungen oder psychischen Belastungen. Die Teilhabe sowie die Chancengleichheit der Kinder im Bildungssystem aus diesen Familien wird dadurch nicht nur erschwert, sondern zum Teil unmöglich gemacht.
- Im Zuge der Isolierung der Familien ist auch zu befürchten, dass Kinder einem höheren Risiko von Misshandlungen oder sexueller Gewalt ausgesetzt sind.
- Eltern leisten neben der Erwerbsarbeit mehrere Stunden häusliche Beschulung am Tag. Mit über 80 % wird diese Arbeit vorwiegend von Müttern geleistet (Langmeyer, Gulghör-Rudan, Naab, Urlen, Winkelhöfer, 2020 ). Dies stellt eine strukturelle Benachteiligung von Frauen dar und führt zum Verlust emanzipatorischer Vorbilder und Modelle.
Das Recht jedes Menschen auf Bildung (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948, Artikel 26) ist gefährdet!
- Familien, Kinder und Jugendliche ohne ausreichende technisch-materielle Infrastruktur (z. B. kein heimisches Internet, keine oder nicht ausreichend vorhandene PCs/Laptops, Drucker) sind strukturell benachteiligt. Für diese Kinder ist das Recht auf Bildung und Teilhabe nicht gewährleistet.
- Es besteht die Gefahr, alle diejenigen Schülerinnen und Schüler zu verlieren, die in irgendeiner Hinsicht besonderen (pädagogischen oder psychologischen) Unterstützungsbedarf aufweisen. Dies kann Kinder mit schulischen Lern- und Leistungsproblemen, Kinder mit Verhaltensproblemen und Problemen der Selbstregulation oder Kinder mit gesundheitlichen Einschränkungen betreffen, aber auch Schülerinnen und Schüler deren Eltern oder Bezugspersonen sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht im notwendigen Umfang fachlich und motivational unterstützen können. Diese Schülerinnen und Schüler sind für ihr schulisches Fortkommen in besonderem Maße auf ihre Lehrkräfte angewiesen; ihr Bildungserfolg ist daher in der momentanen Situation unseres Schulsystems besonders gefährdet.
- Gleichzeitig besteht eine große Heterogenität in der schulischen Betreuung: Während manche Schulen oder Lehrkräfte den Unterricht vollständig auf online-Beschulung umgestellt haben, so dass die Kinder regelhaft am Computer beschult, Klassenarbeiten geschrieben werden und Lehrkräfte als Ansprechpartnerinnen und –partner zur Verfügung stehen, wird momentan von viel zu vielen Kindern erwartet, dass sie sich eigenständig anhand von Arbeitsblättern oder Lehrbüchern ihren Unterrichtsstoff erarbeiten. In diesen Fällen findet eine – teilweise oder vollkommene – Delegation der schulischen Aufgaben an Eltern und Kinder statt – die jedoch nicht immer umgesetzt werden kann. Neben den oben erwähnten psychosozialen Belastungen hat dies zur Konsequenz, dass nicht für alle Kinder Qualität und Quantität der Bildung in ausreichendem Maße gewährleistet sind. Dies stellt eine massive Benachteiligung im Sinne der fehlenden Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe dar und ist nach mehr als sechs Wochen des schulischen ‚Lockdowns‘ und angesichts der ungewissen Zukunftsperspektive nicht akzeptabel.
- Während im schulischen Bereich zumindest teilweise Bildungsangebote durch die digitale Lehre und den eingeschränkten Präsenzbetrieb aufrechterhalten werden können, ist der Bereich der frühkindlichen Bildung durch die Schließung von Kitas und Kindergärten ersatzlos weggefallen. Je nach Situation werden sich die Bildungsangebote, die jüngere Kinder erhalten, enorm zwischen den Familien unterscheiden. Besonders für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, kann der Wegfall der außerfamiliären Kontakte zu beträchtlichen Einbußen im Spracherwerb führen und gegebenenfalls auch die Integration der Kinder beeinträchtigen.
Die Folgen der aktuell massiv reduzierten Bildungsangebote in Kita, Kindergarten und Schule sind absehbar: Neben einem reduzierten Kompetenzzuwachs ist ein erheblicher Schereneffekt mit einer signifikanten Benachteiligung derjenigen zu erwarten, die ohnehin schon eine ungünstige Erfolgsprognose aufweisen. Bereits vor der Corona-Krise war Deutschland eines der Länder mit der höchsten Bildungsungleichheit und einem hohen Anteil an Kindern und Jugendlichen mit erheblichen Bildungsdefiziten. Es ist zu befürchten, dass sich dieser Trend durch die aktuelle Situation verschärft.
Wir fordern daher mit großer Dringlichkeit die Bundesregierung und die Landesregierungen auf, die Gruppe der Kinder und Jugendlichen erheblich stärker in den Fokus ihrer politischen Überlegungen zu stellen. Dazu gehört auch, die Rolle von Kindern bei der Übertragung des Virus sowie die Bedeutung der gewählten Maßnahmen zur Verhinderung von Übertragung bei Kindern genauer zu erforschen. Die Politik ist in engem Austausch mit verschiedensten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessensgruppen – z.B. mit der Tourismus- und Luftfahrtbranche, der Automobilindustrie aber auch der Deutschen Fußballliga. Kinder sind die Zukunft der Gesellschaft und haben das Recht, in dieser besonderen Situation in adäquatem Maße repräsentiert zu werden. Wir schlagen daher einen Austausch im Sinne eines Kindergipfels vor, um alle Optionen für eine gesunde und förderliche Entwicklung der Kinder aller Altersstufen und aus allen sozialen Schichten während der Corona-Krise auszuloten. Themen eines solchen Gipfels sollten sein:
- Realistische, verlässliche und transparent kommunizierte Planungen für die Öffnung von Bildungseinrichtungen für alle Altersstufen unter Einhaltung der aktuellen Bestimmungen, aber auch forschungs- und evidenzbasiert unter Berücksichtigung psychologischer und pädagogischer Erkenntnisse zur Kindsentwicklung.
- Die Aufstellung eines bundesweit gültigen Plans zur Beschulung, der das Recht auf Bildung für alle Kinder und Jugendlichen sichert und eine regelhafte Betreuung der Kinder zu den üblichen Schulzeiten (08:00 – 13:00 Uhr) vorsieht – ob online oder in den Schulen.
- Sicherstellung der notwendigen Infrastruktur und technischen Hilfsmittel für Online-Unterricht für alle Kinder und Jugendlichen.
- Möglichkeiten, Kinder und Jugendliche, die zu den oben genannten Risikogruppen gehören gezielt zu fördern.
- Strategien zur Förderung und Unterstützung von besonders vulnerablen Kindern und Jugendlichen (z. B. Kinder/Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf oder solche, bei denen einer Gefahr der häuslichen Gewalt besteht) entwickeln.
Prof. Dr. Birgit Spinath, Präsidentin Deutsche Gesellschaft für Psychologie (MedWisss)
Prof. Dr. Jörn Sparfeldt, Sprecher MedWisss Fachgruppe Pädagogische Psychologie
Prof. Dr. Silvia Schneider, Sprecherin der MedWisss Fachgruppe Klinische Psychologie
Prof. Dr. Mareike Kunter, Präsidentin, Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (GEBF)
Stellungnahme_Kinder_Jugendliche20200520.pdf