Wie Geflüchtete mit der Coronakrise umgehen
Die Corona-Pandemie betrifft alle, doch die Schwächsten der Gesellschaft trifft sie am schlimmsten. Ein Forschungsprojekt an der ÖAW macht nun die Situation von Geflüchteten in Österreich inmitten der Krise sichtbar.
COVID-19 ist nicht nur ein medizinisches Problem, sondern längst auch ein soziales. Zwar gelten die Maßnahmen, mit denen versucht wird, die Pandemie einzudämmen für alle. Doch Distanz halten und zuhause bleiben ist nicht für alle Bevölkerungsgruppen gleich einfach oder schwierig umzusetzen. Für Menschen, die auf der Suche nach Schutz aus ihrer Heimat geflohen sind, waren die Lebensumstände schon vor der Corona-Pandemie schwierig. In eng belegten Sammelunterkünften mit schlechten Hygienebedingungen sind sie nun zusätzlich einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt.
Ein vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) gefördertes und im Mai gestartetes Forschungsprojekt an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) setzt sich nun mit COVID-19 im Flucht- und Integrationskontext auseinander. Über einen Zeitraum von fünf Monaten nehmen die Wissenschaftler/innen die sozialen Implikationen der Pandemie für syrische und afghanische Communities sowie für NGOs der Flüchtlingsbetreuung in Wien in den Blick. Forschungsteams vom Institut für Stadt- und Regionalforschung der ÖAW und dem Institut für Sozialanthropologie der ÖAW um Josef Kohlbacher, Sabine Bauer-Amin und Maria Six-Hohenbalken untersuchen, wie Geflüchtete mit den besonderen Herausforderungen zur Eindämmung der Pandemie umgehen.
Verlängerter Ausnahmezustand für Geflüchtete
„Social Distancing – in Coronazeiten das Gebot der Stunde – ist auf engem Raum mit vielen Menschen kaum umzusetzen“, sagt Migrationsforscher und Projektleiter Josef Kohlbacher. Und: „Das betrifft sowohl die Geflüchteten, die in den meist überbelegten Asylquartieren leben müssen, als auch jene Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte, die schon auf dem privaten Wohnungsmarkt Fuß gefasst haben, sehr häufig.“
Geflüchtete Menschen zählen aus mehreren Gründen zu den durch COVID-19 besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen, so Kohlbacher. „Bereits im Herkunftsland vor und im Verlauf der Flucht waren sie oftmals in Settings, die als Ausnahmezustand bezeichnet werden können. Nun sind sie abermals einem Ausnahmezustand ausgesetzt.“ Insbesondere für traumatisierte Menschen stellt der Ausbruch der Pandemie eine große Verunsicherung dar – die zu einer Verschlimmerung der Krankheitssymptome führen kann. Hinzu kommt: Viele Unterstützungsangebote, wie Gesprächstherapien, Deutschkurse und Qualifizierungskurse, sind durch das Kontaktverbot weggebrochen. Die Informationslage über das Virus ändert sich ständig und häufig fehlt es an Übersetzungen bzw. ausreichenden Sprachkompetenzen. Die bereits länger existierenden Communities in Wien, wie Kulturvereine oder religiöse Organisationen, übernehmen wichtige Betreuungsleistungen.
„In den Haushalten der Geflüchteten verschärfen sich die Schwierigkeiten, die auch in vielen österreichischen Haushalten derzeit vorherrschen“, berichtet ÖAW-Forscher Kohlbacher. Im Zuge des Shutdown haben viele Menschen ihre Jobs verloren. Ausgerechnet in jenen Branchen, in denen viele Geflüchtete arbeiten, ist ein massiver Beschäftigungsrückgang zu verzeichnen, also im Tourismus, in Beherbergung und Gaststätten sowie in der Reinigung. Auch das Coronavirus-bedingte Homeschooling stellt für viele Familien ein großes Problem dar, insbesondere für sozial benachteiligte Kinder.
Notfallplan für Pandemien
„In der Brisanz der aktuellen Situation sollen die Reaktionen der Geflüchteten aus Syrien und Afghanistan auf die COVID-19 Krise sowie die vielfältigen Veränderungen in allen Lebensbereichen erhoben werden“, erzählt der Projektleiter. Die Daten werden nach einem Mixed-Method-Ansatz generiert, der sogenannte Community-based participatory research-Elemente beinhaltet und zu einer Mehrschrittanalyse führt. Die Grundlage bildet ein ins Arabische und Farsi-Dari übersetzter Fragebogen sowie Telefon- und Skype-Interviews mit Expert/innen von NGOs, Schlüsselpersonen und Community-Initiativen.
Zum Abschluss des Projekts soll es einen Katalog mit Empfehlungen geben – einen Notfallplan im Umgang mit besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppen, der nicht nur für die COVID-19-Pandemie sondern auch für andere Ausnahmesituationen gelten kann. Denn, so Kohlbacher: „Man weiß ja nicht, wie lange diese Krise anhalten wird. Kein Experte wagt dazu eine valide Prognose. Und: So eine Pandemie oder eine andere Ausnahmesituation könnte wiederkommen. Wir müssen daher besser gewappnet sein.“