Sehvermögen durch Gentherapie wiederherstellen

Neuer Ansatz zur Behandlung bislang unheilbarer Netzhautdegeneration

Menschen verlassen sich in erster Linie auf ihr Augenlicht. Der Verlust des Sehvermögens bedeutet, dass wir nicht mehr lesen, Gesichter erkennen oder Gegenstände finden können. Makuladegeneration ist einer der Hauptgründe für Sehschwäche im Alter, weltweit leiden fast 200 Millionen Menschen daran. Verantwortlich für das Einfangen des Lichts aus unserer Umgebung sind die Photorezeptoren in der Netzhaut unserer Augen. Erkrankte Photorezeptoren aber verlieren ihre Empfindlichkeit gegenüber dem Licht, welches zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens oder sogar zur völligen Erblindung führen kann. Im Rahmen einer internationalen Kooperation haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Institut für Molekulare und Klinische Ophthalmologie Basel (IOB) und vom Deutschen Primatenzentrum (DPZ) – Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen einen völlig neuen Therapieansatz entwickelt, der auf einer Gentherapie beruht. Es ist ihnen gelungen, die degenerierten Photorezeptoren durch Nahinfrarotlicht zu aktivieren und damit den Sehverlust umzukehren (Science).

Die Hauptursache für Blindheit in den Industrieländern ist die Degeneration der Photorezeptoren, einschließlich der altersbedingten Makuladegeneration und der Retinitis pigmentosa. Während des Fortschreitens der Photorezeptordegeneration kommt es dazu, dass lichtempfindliche und lichtunempfindliche Photorezeptorregionen in der Netzhaut nebeneinander koexistieren. Patienten mit einer Makuladegeneration verlieren beispielsweise das Sehvermögen im zentralen Teil ihrer Netzhaut, aber behalten das periphere Sehvermögen.

Einem internationalen Forscherteam ist es nun gelungen, einen neuen therapeutischen Ansatz zu entwickeln, um die Lichtempfindlichkeit der degenerierten Netzhaut wiederherzustellen, ohne dabei das noch vorhandene Sehvermögen negativ zu beeinflussen. Inspiriert wurden sie dabei von Fledermäusen und Schlangen, die das vom Körper ihrer Beutetiere ausgesandte Nahinfrarotlicht wahrnehmen können. Dies geschieht durch den Einsatz wärmeempfindlicher Ionenkanäle, die in der Lage sind, die Wärme des Nahinfrarotlichts zu empfangen, welches den Fledermäusen und Schlangen ermöglicht, thermische und visuelle Bilder im Gehirn zu überlagern und so präziser auf ihre Umgebung zu reagieren. Um die Photorezeptoren in der Netzhaut für das Nahinfrarotlicht zu sensibilisieren, haben die Forscher ein Drei-Komponenten-System entwickelt. Die erste Komponente beinhaltet eine genetisch konstruierte DNA, die dafür sorgt, dass das für den wärmeempfindlichen Kanal kodierende Gen nur in den Photorezeptoren exprimiert wird. Die zweite Komponente ist ein Gold-Nanorod, ein kleiner Partikel, der das Nahinfrarotlicht effizient aufnimmt. Die dritte Komponente ist ein Antikörper, der für eine starke Bindung zwischen dem wärmeempfindlichen Kanal in den Photorezeptoren und den Gold-Nanorods sorgt.

Die Forscher haben das System zunächst an gentechnisch veränderten Mäusen getestet, die mit vier Wochen eine Netzhautdegeneration entwickeln. Sie konnten bestätigen, dass das Nahinfrarotlicht effektiv die Photorezeptoren anregt und dieses Signal an retinale Ganglienzellen weitergeleitet wird, die die Verbindung der Netzhaut mit den höheren Sehzentren im Gehirn darstellen. Im Weiteren konnten sie zeigen, dass die Stimulation des Mausauges mit dem Nahinfrarotlicht auch von Neuronen in einem für das bewusste Sehen wichtigen Hirnareal, dem primären visuellen Kortex, aufgenommen wird. Anhand eines speziell entwickelten Verhaltenstests konnten die Wissenschaftler zeigen, dass unbehandelte, blinde Mäuse nach einer Stimulation mit Nahinfrarotlicht nicht in der Lage waren, eine einfache Aufgabe zu erlernen, während hingegen blinde Mäuse, die mit dem Drei-Komponenten-System behandelt wurden, die Aufgabe mit Nahinfrarot-Stimulation ausführen konnten.

In Kooperation mit Arnold Szabo, einem Co-Autor der Studie und Assistenzprofessor an der Semmelweis-Universität in Ungarn, konnten die Forscher ihren neuen Ansatz an menschlichen Netzhäuten testen, die monatelang in Kulturmedium am Leben gehalten werden konnten, obwohl die Erblindung etwa einen Tag nach dem Tod einsetzt, da die Photorezeptoren ihre Fähigkeit verlieren, Licht wahrzunehmen. Die Ergebnisse zeigten, dass nach der Behandlung mit der Drei-Komponenten-Gentherapie-Methode, die Sehschaltungen der menschlichen Netzhaut durch die Nahinfrarotlicht-Exposition reaktiviert werden konnten.

„Wir gehen davon aus, dass die Nahinfrarot-Stimulation ein wichtiger Schritt ist, um blinden Menschen wieder das Sehen zu ermöglichen und die Fähigkeit wiederzuerlangen, Gesichter zu erkennen“, sagt Daniel Hillier, Leiter der Nachwuchsgruppe Visual Circuits and Repair am DPZ, und fügt hinzu: „Mit diesen Erkenntnissen wollen wir blinden Menschen Hoffnung geben und werden unsere Forschungsaktivitäten in diesem Bereich hier am DPZ im Rahmen unseres Hauptprojekts, das auf die Wiederherstellung des Sehvermögens fokussiert, in Zukunft weiter intensivieren“.

Originalpublikation:

Nelidova et al. (2020): Restoring light sensitivity using tunable near-infrared sensors. Science.