Die Wirksamkeit der Corona-Warn-App kann sich nur im Praxistest zeigen
Corona im Fokus: HHU-Expertise zur Pandemie
Eine Warn-App kann ein wichtiger Baustein der Corona-Pandemie-Bekämpfung sein. Für ihr Wirken müssen viele Faktoren ineinandergreifen, die sich vorab kaum simulieren lassen. „Die Einführung der Corona-Warn-App ist eine politische Entscheidung. Ihr Erfolg hängt davon ab, dass sehr viele Menschen bereit sind, die App freiwillig für einen längeren Zeitraum zu nutzen“, sagt Prof. Dr. Peter Kenning vom Lehrstuhl für BWL, insbesondere Marketing, Co-Autor des Gastbeitrages und wie Susanne Dehmel und Gert G. Wagner Mitglied des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen (SVR). Eine aktuelle Analyse zentraler Erfolgsfaktoren einer solchen App aus Perspektive der Technologieakzeptanzforschung.
Es ist gut, die Warn-App bald zu starten. Denn nur so können wir feststellen, ob und wie die App uns hilft, wenn es im Herbst wieder kritisch werden sollte. Dass eine solche „Corona-Warn-App“ im Vorfeld datenschutzrechtlich kritisch geprüft wurde und entsprechend aufgesetzt wird, ist selbstverständlich. Die öffentliche Diskussion sollte aber dringend auch andere erfolgskritische Aspekte in den Blick nehmen.
In Deutschland leben mehr als 83 Millionen Menschen, von denen die meisten sich wegen der Corona-Pandemie nicht nur Sorgen um ihre Gesundheit machen, sondern auch um die ökonomischen und sozialen Folgen. Das Bedürfnis nach alter Normalität wächst, ebenso aber auch die Furcht vor einer zweiten Welle. Vor diesem Hintergrund steht in Deutschland die Einführung einer Corona-Warn-App unmittelbar bevor.
Dieses Großprojekt stellt eine gewaltige Herausforderung für die Gesellschaft dar. Die Wissenschaft kann dabei helfen, diese Herausforderung zu bestehen. Dabei geht es allerdings nicht nur um Infektiologie und Informatik. Auch die Technologieakzeptanzforschung ist wichtig, denn ohne die Akzeptanz der Bevölkerung nutzt die beste App nichts. Ihre Wirksamkeit basiert auf einem Netzeffekt: Sie wächst überproportional mit der Zahl ihrer Nutzer. Und nur dann, wenn im Falle eines Rückfalls in eine Phase des exponentiellen Wachstums der Infektionsraten (d.h. R-Werte > 1) eine sehr hohe Nutzerzahl erreicht worden ist, wird die App ihre gewünschte Bremswirkung entfalten können. Die einschlägigen Simulationsstudien gehen von einen Wert von etwa 60% der Bevölkerung aus. Dies bedeutet, dass in Deutschland mehr als 48 Mio. Menschen die App installieren und dauerhaft nutzen müssen, wenn sie wirken soll! Wird dieser Wert erreicht, würden unter bestimmten Annahmen etwa 36% der potenziell infektiösen Kontakte erfasst. Beträgt der Bevölkerungsanteil hingegen nur 10%, sinkt der Wert erfasster Kontakte auf 1%. Die App wäre dann nahezu unwirksam.
Die Bundesregierung verfolgt demzufolge das Ziel einer höchstmöglichen Akzeptanz. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es von zentraler Bedeutung, den Menschen zu vermitteln, welchen persönlichen Nutzen die App bietet. Hierzu sollten die derzeit diskutierten abstrakten Argumente, z.B. dass die App zum „Schutz der Gesellschaft“ beiträgt, glaubwürdig konkretisiert werden. Zudem dürfen keine negativen Effekte von der Nutzung ausgehen, z.B. im Hinblick auf andere Funktionen des Smartphones. Wichtig ist auch, dass der zusätzliche Energieverbrauch die Leistungsfähigkeit der Geräte nicht über Gebühr mindert.
Neben der Vermittlung des persönlichen Nutzens bildet das Vertrauen einen weiteren Erfolgsfaktor. In Krisen vertrauen Menschen höchst ungern abstrakten Systemen. Sie halten sich eher an Personen, die ihnen vertraut sind und die sie als kompetent und integer wahrnehmen. Es wäre daher ratsam, die App mit einer solchen Person oder auch mehreren glaubwürdigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu verbinden.
Ebenso wichtig ist es, zu vermeiden, dass die Wirksamkeit der App überzogen dargestellt wird. Eine solches „Overselling“ würde die Glaubwürdigkeit untergraben und sich zweifellos negativ auf die dauerhafte Akzeptanz auswirken. Es wäre daher ratsam, gleich zu Beginn zu betonen, dass die App kein Allheilmittel ist. Bei niedrigen Nutzerzahlen kann die App selbst denen, die sie installieren, keine Entwarnung geben, da ja fast alle Risikokontakte nicht erfasst werden. Und jemand der die App nutzt wird lediglich darüber informiert, dass er infiziert sein könnte. Er kann sich dann testen lassen und gegebenenfalls die anderen Nutzer über seine eigene Infektion informieren; nicht mehr, nicht weniger. Wie ein App-Nutzer mit diesen Möglichkeiten umgeht und ggfs. dazu beiträgt, dass etwaige Infektionsketten unterbrochen werden, ist offen. Die App stellt somit nur einen, gleichwohl wichtigen Baustein in einer Gesamtstrategie dar, zu der zwingend ausreichende Testkapazitäten gehören. Denn nicht jede Warnung wird zu einer Selbst-Quarantäne führen (können).
Vertrauen ist aber nicht nur in der Einführungsphase wichtig. Wird die App von der Mehrheit der Bevölkerung genutzt, wird sie je nach Entwicklung der Neuinfektionen sehr viele „Fehlalarme“ auslösen, also Nahkontakte anzeigen, die aber nicht zu Infektionen geführt haben. Welche Folgen die daraus resultierende Frustration für die Akzeptanz und Nutzung der App haben wird, ist kaum abzuschätzen. Hier wird man Erfahrungen sammeln müssen und hoffentlich rasch daraus lernen.
Der Erfolg der App wird von vielen Details abhängen. Niemand kann diese im Moment vollständig überblicken oder gar simulieren. Wir werden diese Unsicherheit aushalten müssen. Aber gerade deswegen ist der Launch gerade jetzt, in einer Phase der Covid-Stagnation sinnvoll. Denn im Gegensatz zu der Lage im März und April besteht nun Möglichkeit zum Lernen, ohne dass Fehler sich schwerwiegend auf das Infektionsgeschehen auswirken werden. Für den erhofften Lernerfolg wird es wichtig sein, dass viele Menschen rasch die App installieren und nutzen. Würde zu Beginn ein Anteil von gut 30% erreicht, würden knapp zehn Prozent aller potenziell infektiösen Kontakte erfasst. Bei derzeit etwa 500 neu gemeldeten Infektionen pro Tag würden durch die App dann knapp 50 potenzielle Infektionsketten aufgedeckt – gerade genug, um daraus lernen zu können
Die Einführung, der Betrieb und die Nutzung der App stellen eine gewaltige und einzigartige Herausforderung dar. Nicht nur für die Politik, sondern auch für die Gesellschaft, die mitmachen muss. Wir sollten das Sozialexperiment „Warn-App“ trotz aller Unsicherheit aber angehen. Wenn wir es gut machen, haben wir die Chance, mit der Warn-App zur Eindämmung der Infektionen und damit zum Erhalt eines guten öffentlichen Lebens beizutragen, und möglichst bald die App wieder löschen zu können.
Susanne Dehmel, Peter Kenning und Gert G. Wagner sind Mitglieder des Sachverständigenrates für Verbraucherfragen (SVRV). Ihr Gastbeitrag basiert auf der aktuellen Expertise zu den zentralen Erfolgsfaktoren der kommenden Corona-Warn-App, die der SVRV kürzlich veröffentlicht hat. Der Policy Brief „Die Wirksamkeit der Corona-Warn-App wird sich nur im Praxistest zeigen. Der Datenschutz ist nur eine von vielen Herausforderungen“ ist hier abrufbar.
Die weltweite Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 wirft zahlreiche Fragen nicht nur zu den gesundheitlichen, sondern auch zu wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Folgen auf. Die Wissenschaft liefert hier entscheidende Fakten und Antworten. Viele Forscherinnen und Forscher der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) aus unterschiedlichen Disziplinen sind durch ihre Arbeit aktuell gefragte Gesprächspartner der Medien oder auch direkt in das Pandemie-Krisenmanagement eingebunden. Die HHU möchte ihre wissenschaftliche Expertise in die öffentliche Diskussion einbringen, um so zur Einordnung und Bewältigung der Corona-Krise beizutragen.
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