Junge Migranten sind anfällig für psychische Erkrankungen
Traumatische Erlebnisse, Missbrauchserfahrungen und Armut gefährden psychische Gesundheit vieler minderjähriger Geflüchteter. Göttinger Wissenschaftler*innen des MPI für Experimentelle Medizin und der Universitätsmedizin Göttingen mit Untersuchungsergebnissen in renommierter Fachzeitschrift „The Lancet – EClinical Medicine“
(umg/mpiem) Krieg, Folter, Menschenhandel und extreme Armut sind nur einige schreckliche Situationen, denen Flüchtlinge vor und während ihrer Flucht ausgesetzt sein können. Solche Erfahrungen machen die Betroffenen auch noch Jahre später anfällig für psychische Erkrankungen. Darüber hinaus müssen Flüchtlinge häufig auch nach ihrer Ankunft in Deutschland unter psychisch belastenden Bedingungen leben.
Eine Gruppe von Forscher*innen um Prof. Dr. Dr. Hannelore Ehrenreich vom Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin in Göttingen und Prof. Dr. Luise Poustka, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), hat nun gezeigt, dass die Psyche junger Geflüchteter mit jedem weiteren Risikofaktor mehr belastet wird. Die Folgen sind eine verminderte Leistungsfähigkeit und Verhaltensauffälligkeiten, die sich später auch in aggressivem und kriminellem Verhalten äußern können. Umso wichtiger ist es, Flüchtlinge einfühlsam zu begleiten und ihnen die Möglichkeit zu geben, der Spirale negativer Erlebnisse zu entkommen. Die Untersuchung wurde im renommierten Fachjournal EClinicalMedicine von The Lancet veröffentlicht.
Originalveröffentlichung: Martin Begemann, Jan Seidel, Luise Poustka, Hannelore Ehrenreich: Accumulated environmental risk in young refugees – A prospective evaluation. EClinicalMedicine published by The Lancet; Volume 22; May 11, 2020, DOI: https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2020.100345
Traumatische Erlebnisse, körperlicher und sexueller Missbrauch, Konsum von Cannabis und Alkohol, Leben in Großstädten – all dies sind Faktoren, die das Auftreten von psychischen Störungen begünstigen. Treffen auf eine Person gleich mehrere dieser Risikofaktoren zu, und das sogar noch vor dem 20. Lebensjahr, fällt diese später außerdem häufiger durch aggressives und kriminelles Verhalten auf.
Diese Beobachtung aus vorherigen Arbeiten brachte eine Gruppe Göttinger Forscher*innen dazu, eine bestimmte Risikogruppe näher unter die Lupe zu nehmen: Minderjährige Geflüchtete, die häufig nicht nur in ihrem Herkunftsland und auf der Flucht traumatische Erfahrungen machen, sondern oft auch nach ihrer Ankunft in Deutschland psychisch belastenden Lebensumständen ausgesetzt sind. „Die Auswirkungen dieser Belastungsfaktoren erwarteten wir bei Jugendlichen umso stärker, da sich ihr Gehirn noch in der Entwicklung befindet und besonders sensibel auf Störungen reagiert“, sagt Prof. Dr. Luise Poustka, Mitautorin der Studie an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der UMG.
Interviews mit Geflüchteten
Um besser zu verstehen, wie stark junge Flüchtlinge belastet sind und was dies für ihre seelische Gesundheit bedeutet, führten die Göttinger Forscher*innen detaillierte Interviews mit 133 Geflüchteten. Im Durchschnitt waren die Studienteilnehmer 22 Jahre alt und galten als gesund. Viele waren als unbegleitete Minderjährige nach Deutschland gekommen. Außerdem wurden die Studienteilnehmer*innen auf ihre körperliche Gesundheit hin untersucht und erste Anzeichen von Verhaltensauffälligkeiten mithilfe von strukturierten Interviews erfasst.
„Viele Geflüchtete sind einer erheblichen Anzahl von Risikofaktoren ausgesetzt“, sagt der Erstautor der Studie, Priv.-Doz. Dr. Martin Begemann, der ;in Brückenfunktion‘ an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der UMG und seit 2004 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPI für Experimentelle Medizin, Göttingen, arbeitet. Über 95 Prozent der Geflüchteten sind zusätzlich zur eigentlichen Fluchterfahrung von weiteren belastenden Lebensereignissen, Gewohnheiten oder Lebensbedingungen betroffen, die sie anfälliger für psychische Erkrankungen machen. Bei der großen Mehrzahl stellten die Forscher*innen zwei, drei oder gar mehr als vier zusätzliche Risikofaktoren fest. Etwa die Hälfte der Studienteilnehmer*innen hatte traumatische Erlebnisse vor und während der Flucht erlebt, ein Viertel der befragten jungen Geflüchteten hatte körperlichen und sexuellen Missbrauch erlitten. So trugen etwa 40 Prozent der Studienteilnehmer*innen Narben oder Wunden von Stich- und Schussverletzungen, Explosionen oder Verbrennungen davon. Vier junge Männer zeigten eindeutige psychotische Symptome, zwei davon mit Suizidgedanken.
Anzahl der Risikofaktoren ist entscheidend
Insgesamt stellten die Wissenschaftler fest: Je mehr Risikofaktoren eine Person ausgesetzt war, desto stärker war ihre Leistungsfähigkeit bereits vermindert und desto eher zeigte sie erste Anzeichen von psychischen Auffälligkeiten. Weniger wichtig war, welche Risikofaktoren genau vorhanden waren. Interessanterweise konnten auch enge und stabile menschliche Beziehungen die Geflüchteten nicht vor diesen negativen Auswirkungen schützen: Ob eine Person in Begleitung von Familie oder Freunden geflüchtet war oder zum Zeitpunkt der Studie ein gutes soziales Netzwerk hatte, beeinflusste ihren aktuellen psychischen Zustand nicht. Die Autoren vermuten, dass soziale Unterstützung nur einen schwachen schützenden Effekt hat.
Wie viele der Jugendlichen tatsächlich später psychologisch auffällig oder gar straffällig geworden sind, werden die Forscher*innen erst in einigen Jahren feststellen können. Sie rechnen allerdings damit, dass sie nur etwa die Hälfte der Teilnehmer erneut kontaktieren können. Die Spur der anderen wird durch die vielen Verlegungen zwischen Flüchtlingszentren und durch Abschiebungen ins Herkunftsland verloren gehen.
Was also kann man schon jetzt tun, um die schlechte Prognose für stark belastete Flüchtlinge zu verbessern? „Da jeder weitere Risikofaktor auch die Wahrscheinlichkeit für späteres aggressives Verhalten, Kriminalität und psychische Störungen erhöht, müssen wir verhindern, dass sich noch mehr belastende Faktoren anhäufen“, sagt Prof. Dr. Dr. Hannelore Ehrenreich. Denkbar wäre zum Beispiel, Geflüchtete engmaschig medizinisch und psychologisch zu begleiten, vor allem aber ihnen ohne Verzögerung erste einfache Arbeitstätigkeiten und Sprachkurse zu vermitteln, noch bevor eine endgültige Entscheidung über ihren Aufenthaltsstatus gefallen ist. „Dies könnte ihnen dabei helfen, sich aus beengten Wohnverhältnissen zu befreien, wo sie mit Langeweile, Gewalt und Drogen konfrontiert sind. Und es würde die erlebte Auswegslosigkeit und die ‘gelernte Hilflosigkeit‘ als vermutlich schlimmsten negativen Faktor vermeiden“, so Ehrenreich.