Schilddrüsenhormone: Paradigmenwechsel in der Forschung könnte Prävention und Therapie von Schlaganfall und Herzinfarkt voranbringen
Schilddrüsenhormone nehmen eine Schlüsselrolle in diversen Stoffwechselprozessen des Körpers ein. Bisher liegt das klinische Augenmerk bei Stoffwechselerkrankungen auf deren Blutkonzentration – Prävention, Diagnostik und Therapie sind danach ausgerichtet. Ein neuer Sonderforschungsbereich führt nun einen Perspektivwechsel durch, der Angebot und Nachfrage von Schilddrüsenhormonen in den jeweiligen Organen unter die Lupe nimmt. Insbesondere neue Erkenntnisse zu molekularbiologischen Prozessen und den Einfluss der lokalen Schilddrüsenhormonwirkung in Gehirn, Leber und Herz sollen ein Licht auf die Krankheitsentstehung werfen und neue Therapieansätze ermöglichen. Auf der gemeinsamen Online-Pressekonferenz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) stellt die Sprecherin der Sektion Schilddrüse der DGE diesen Paradigmenwechsel in der Hormonwirkung vor und zeigt auf, inwiefern perspektivisch auch Patientinnen und Patienten mit Volkserkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Lebererkrankung von einem besseren Verständnis der lokalen Kontrolle der Hormonwirkung profitieren könnten.
Schilddrüsenhormone sind komplexe Regulatoren. Sie bestimmen die Stoffwechsellage im Körper und haben unter anderem Einfluss auf Energieverbrauch, Körperwärme, die Aktivität von Nerven, Muskeln, Herz, Kreislauf, Magen und Darm, das seelische Wohlbefinden, die Sexualität sowie – insbesondere bei Kindern – die körperliche und geistige Entwicklung. Darüber hinaus finden noch vielfach unverstandene molekularbiologische Prozesse in den jeweiligen Zielorganen statt, an denen Schilddrüsenhormone ganz wesentlich beteilig sind. „Über die Einzelheiten der Signal- und Transportwege der Schilddrüsenhormone und ihren Einfluss auf die Entstehung von Volksleiden wie Fettleber, Schlaganfall und Herzinfarkt – aber auch auf unbekannte seltene Stoffwechselerkrankungen – müssen wir noch viele Erkenntnisse gewinnen“, erklärt Professor Dr. med. Dagmar Führer-Sakel, Sprecherin der Sektion Schilddrüse der DGE. Dies könne in mögliche neue Therapien und Präventionsmaßnamen einfließen. Auf der gemeinsamen Online-Pressekonferenz der DDG und DGE stellt sie einen aktuell ins Leben gerufenen Sonderforschungsbereich zu diesem Thema vor.
Die Blutserumkonzentration von Schilddrüsenhormonen ist nur eine Seite endokriner Mechanismen. Ein detaillierter Blick auf ihre lokale Wirkung in Organen wie Herz, Leber und Gehirn gibt weiteren Aufschluss über zelluläre Mechanismen, an denen Schilddrüsenhormone wesentlich beteiligt sind. „Erkrankungen, bei denen der Transport von Schilddrüsenhormonen in die jeweiligen Zellen der Organe durch eine Genmutation unterbunden ist, zeigen uns, welche Auswirkungen die Abwesenheit dieser Hormone in den jeweils betroffenen Organen hat“, erklärt Führer-Sakel, Direktorin an der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel am Universitätsklinikum Essen. Beim Allan-Herndon-Dudley-Syndrom (AHDS) ist beispielsweise der Transport von Schilddrüsenhormonen in die Organe gestört. Die Folge sind eine schwere geistige Entwicklungsverzögerung und Störung der Motorik und des Muskelaufbaus. „Beim AHDS fehlt im Gehirn das aktive Schilddrüsenhormon T3“, führt Führer-Sakel aus. „Zwar wird dieses Hormon ausreichend gebildet und ist auch im Blut nachweisbar. Doch der Transportweg über die Blut-Hirnschranke in die Nervenzellen ist durch eine Genmutation, die die Funktion eines Hormon-Transporters betrifft, beeinträchtigt und führt zum entsprechenden Krankheitsbild.“
Auf der anderen Seite kann eine erhöhte Konzentration dieses Hormons in Organen ebenfalls schädlich sein – auch dieses findet sich beim AHDS. Zudem zeigen Studien, dass lokale Veränderungen der Schilddrüsenhormonverfügbarkeit einen Einfluss auf die Entstehung und den Schweregrad von Schlaganfällen und Herzinfarkt haben. „Schilddrüsenhormone scheinen zwar prinzipiell einen protektiven Charakter zu haben. Andererseits kann eine ‚Überdosis´ offenbar zu großen Schäden bei akuten Ischämien – also der Blutversorgung von Organen – haben“, so Führer-Sakel. Auch für Lebererkrankungen bestehen ähnliche Vermutungen.
Im neuen Sonderforschungsbereich SFB TR 296 „Local control of TH action (LocoTact)” wollen Wissenschaftler eines interdisziplinären Konsortiums nun den Einfluss der lokalen Schilddrüsenhormonwirkung auf physiologische und pathophysiologische Prozesse untersuchen. Beteiligt sind Kliniker und Grundlagenwissenschaftler der Universität Duisburg-Essen, der Universität zu Lübeck und der Charité – Universitätsmedizin Berlin mit Forschern von Helmholtz- und Leibnitz-Instituten sowie der Universität Leipzig. „Dabei fokussiert sich das Team in der ersten Förderphase auf die bekanntesten Zielorgane von Schilddrüsenhormonen wie Gehirn, Herz und Leber und entwickelt Therapiemöglichkeiten auf Grundlage genetischer und zellbiologischer Erkenntnisse“, fasst Führer-Sakel, Sprecherin des SFB, das Vorhaben zusammen. Sie stellt am 30. Juni 2020 in der Online-Pressekonferenz das Thema detailliert vor und geht dabei auf bisherige und mögliche Erkenntnisse in diesem Forschungsfeld ein.