Verteilung von Menschen mit Demenz in Deutschland: Studie zeigt deutliche regionale Unterschiede
Menschen mit Demenz sind keineswegs gleichmäßig über Deutschland verteilt. Eine Studie des DZNE und der Universitätsmedizin Greifswald belegt große regionale Unterschiede: Infolge der Altersstruktur ist in vielen östlichen Landkreisen der Anteil von Menschen mit Demenz an der Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich hoch. Das gilt auch für einige Gebiete im Norden, mittleren Südwesten und Süden der Bundesrepublik. Die Versorgung muss regional angepasst optimiert werden. (Mit interaktiven Deutschland-Karten, bitte nach unten scrollen)
Demenz ist eine große Herausforderung für die Gesellschaft: Mehr als 40 Prozent der Deutschen haben einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage (Sicherheitsreport 2020) zufolge davor Angst, im Alter dement und pflegebedürftig zu werden. In den nächsten 30 Jahren könnte die Zahl der Menschen mit Demenz in der Bundesrepublik von derzeit rund 1,6 Millionen auf ca. 2,8 Millionen ansteigen. „Angesichts steigender Lebenserwartung und der Verschiebung der Alterspyramide in Deutschland stehen wir vor einer gewaltigen Aufgabe“, so Dr. René Thyrian, Experte für die Versorgung von Menschen mit Demenz am DZNE-Standort Rostock/Greifswald. „Wir benötigen eine adäquate Versorgung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen. Die Angebote müssen auf die örtliche Situation in Landkreisen und Kommunen zugeschnitten sein. Dazu muss man den Bedarf kennen. Diesen haben wir aufgeschlüsselt.“
Analyse auf Kreisebene
Das Forschungsteam um Thyrian untersuchte anhand aktueller Daten, wie sich Demenzbetroffene über Deutschland verteilen. Für die Studie, die im Fachjournal „Der Nervenarzt“ erscheint, schätzten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Anzahl von Betroffenen auf Kreisebene: Kreisfreie Städte und Kreise bilden jeweils eine geografische Einheit. Für jede einzelne der insgesamt 401 geografischen Einheiten berechneten die Forschenden die Anzahl der an Demenz erkrankten Personen im Alter ab 65 Jahren. Zudem errechneten sie den prozentualen Anteil von Menschen mit Demenz an der Gesamtbevölkerung sowie die regionale Bevölkerungsdichte für Betroffene. Dafür nutzten die Forschenden Daten des Statistischen Bundesamtes und der „European Collaboration on Dementia“. „Alle diese Informationen sind öffentlich zugänglich. Für unsere Studie haben wir sie in geeigneter Weise kombiniert. Aufgrund der hohen Datenmenge war das eine absolute Fleißarbeit“, erklärt Thyrian.
Osten Deutschlands besonders betroffen
Der Studie zufolge liegt der Anteil von Menschen mit Demenz an der Gesamtbevölkerung – kommunal, also auf Kreisebene – derzeit zwischen ungefähr 1,4 und drei Prozent. „Wir haben herausgefunden, dass Demenz in Deutschland sozusagen sehr ungleichmäßig vorkommt – und dass es Gebiete gibt, in denen prozentual gesehen doppelt so viele Betroffene leben wie in anderen Teilen der Republik“, so Thyrian. Überdurchschnittlich hoch ist der Anteil in vielen Regionen östlicher Bundesländer sowie in einigen Landkreisen im Norden, mittleren Südwesten und Süden der Bundesrepublik. „Während beispielsweise im Kreis Freising der Anteil an Menschen mit Demenz an der Bevölkerung bei 1,4 Prozent liegt, so ist dieser Anteil in Görlitz oder Dessau-Roßlau mit mehr als 2,9 Prozent etwa doppelt so hoch“, sagt Thyrian. Die Ursache für den hohen Anteil von Demenzbetroffenen in einigen ländlichen Kreisen liegt in der Altersstruktur der jeweiligen Region, denn dort leben überdurchschnittlich viele ältere Menschen. „In Ballungsgebieten wie etwa dem Ruhrgebiet gibt es ebenfalls einen hohen Anteil von Menschen mit Demenz aufgrund der Altersstruktur und weil diese Regionen zudem sehr dicht besiedelt sind“, erläutert Thyrian.
Weite Wege zum Arzt
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entdeckten auch, dass aufgrund der dünnen Besiedelung in manchen ländlich geprägten Kreisen nur sehr wenige Menschen mit Demenz pro Quadratkilometer leben, obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung eigentlich relativ hoch ist. „In dünn besiedelten Gebieten ist der Weg zur nächsten ärztlichen Praxis oder Tagespflege in der Regel weit. Das macht die spezialisierte, wohnortnahe Versorgung schwierig. Denn betagte Menschen und besonders Menschen mit Demenz sind meist nur eingeschränkt mobil“, so Thyrian. „In Kreisen wie beispielsweise Salzwedel in Sachsen-Anhalt und dem brandenburgischen Ostprignitz-Ruppin gibt es zwar einen hohen Anteil von Menschen mit Demenz, diese verteilen sich aber über ein großes Gebiet. Dort steht man sicherlich vor anderen Herausforderungen als in dichter besiedelten Regionen.“
Passgenaue Lösungen gefragt
„Unsere Analysen zeigen, dass eine Darstellung auf Bundesebene die Situation für die einzelnen Kreise und kreisfreien Städte nur unvollständig abbildet.“ Bei der Versorgung von Demenzbetroffenen und deren Angehörigen in Deutschland empfiehlt Thyrian, regionale Gegebenheiten zu beachten: „Jeder Kreis steht vor einer individuellen Herausforderung. Es sollte geprüft werden, inwieweit die bisherigen Strukturen in der Region angemessen sind. Wenn es mehr Demenzbetroffene als bislang angenommen gibt, bräuchte man mehr Versorgungsangebote. Auch in der Stadtplanung kann man darauf achten, zum Beispiel durch mehr barrierefreie öffentliche Plätze und Gebäude. Ob der Anteil an Demenz erkrankter Menschen an der Gesamtbevölkerung eines Kreises ein Prozent oder drei Prozent beträgt, macht nun mal einen bedeutenden Unterschied. Es sollte also passgenaue regionale Lösungen geben, da die Kreise unterschiedlich betroffen sind.“
Das DZNE erforscht sämtliche Aspekte neurodegenerativer Erkrankungen (wie beispielsweise Alzheimer, Parkinson und ALS), um neue Ansätze der Prävention, Therapie und Patientenversorgung zu entwickeln. Durch seine zehn Standorte bündelt es bundesweite Expertise innerhalb einer Forschungsorganisation. Das DZNE kooperiert eng mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene. Das DZNE ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft.
Die Prävalenz an Demenz erkrankter Menschen in Deutschland – eine bundesweite Analyse auf Kreisebene.
Thyrian, J.R., Boekholt, M., Hoffmann, W. et al.
Nervenarzt (2020).
DOI: 10.1007/s00115-020-00923-y