Synthetische Zellen: Formen und Bewegungen steuern
Lebende Zellen sind alles andere als starre Gebilde. Sie können unterschiedlichste Formen annehmen, etwa um sich fortzubewegen, durch Engstellen zu schlängeln oder Nährstoffe aufzunehmen. Krankheitserreger, wie der Lebensmittelkeim Listeria monocytogenes oder das mit der Pest verwandte Bakterium Yersinia pseudotuberculosis, nutzen diese Fähigkeiten der aktiven Fortbewegung zum Beispiel, um in gesundes Gewebe einzudringen. Die physikalischen Grundlagen dieser komplexen Prozesse haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Forschungszentrums Jülich und der ETH Zürich nun mit einem neuen Modellsystem untersucht. Die Ergebnisse helfen biologische Vorgänge besser zu verstehen, und können wichtig für die Entwicklung synthetischer Zellen sein, die einmal etwa als Miniaturfabriken dienen oder als Mikro-Roboter arbeiten sollen.
Die äußere Hülle von Zellen – die Membran – besitzt keine Muskeln oder vergleichbare Strukturen. Zellformen entstehen stattdessen als Reaktion auf Kräfte im Zellinneren. Wie diese Kräfte erzeugt werden, wie die Membran auf diese Kräfte reagiert und welche Zell-Formen wann entstehen – solchen und ähnlichen Fragen gingen die Forscher des Forschungszentrums Jülich und der ETH Zürich nach, indem sie zwei gut untersuchte Modellsysteme kombinierten und diese sowohl experimentell als auch mit Computersimulationen untersuchten.
Weil die Zellhülle keine aktive Rolle bei der Gestaltgebung von Zellen spielt, konnten die Forscher sie in ihren Untersuchungen durch einfacher aufgebaute Vesikel ersetzen — winzige Bläschen, deren flexible Hülle in Aufbau und mechanischem Verhalten den Zellmembranen sehr ähnlich ist. Im Gleichgewicht sind solche Vesikel oft nahezu kugelförmig. Das komplexe Zellskelett, das in lebenden Zellen von innen Kräfte auf die Membranen ausübt und dadurch Bewegungen und Formänderungen der Zellen auslöst, ersetzten die Forscher durch aktive Teilchen. Diese kugelförmigen Janus-Teilchen bilden bei Zufuhr chemischer Energie einen eigenen Antrieb aus. Die Untersuchung aktiver Teilchen bildet seit einigen Jahren einen Schwerpunkt der Jülicher Forscher um Prof. Dr. Gerhard Gompper, Direktor am Institute for Advanced Simulations und am Institut für Biologische Informationsverarbeitung.
Bei experimentellen Untersuchungen des Systems mit unterschiedlichen Partikelkonzentrationen in Zürich fanden die Forscher eine überraschende Vielfalt unerwarteter Vesikelformen fern des Gleichgewichts. Um zu erklären, wie sie entstehen, schreiben die Jülicher Forscher eigens ein neues Programm für umfangreiche Berechnungen auf einem Supercomputer des Forschungszentrums, das eine hohe räumliche Auflösung der Membranformen und -deformationen ermöglicht.
„Die Computersimulation des gesamten Systems aus Vesikeln und aktiven Teilchen und ihren Wechselwirkungen untereinander ermöglicht uns Untersuchungen, die experimentell schwierig oder ganz unmöglich sind“, erläutert Prof. Dr. Gerhard Gompper. So entstehen im Experiment bei einer hohen Konzentration des Treibstoffs Wasserstoffperoxid Blasen, die selbst wieder starke Kräfte durch Oberflächenspannungen erzeugen. Außerdem lässt die Schwerkraft die Vesikel auf den Grund der Probengefäße sinken, wo sie deformiert werden. Solche unerwünschten „Nebenwirkungen“ lassen sich in Simulationen vermeiden. Zudem lassen sich mithilfe der Erkenntnisse aus den Simulationen die Experimente besser analysieren.
Den Forschern gelang es so, die drei wesentlichen Faktoren zu bestimmen, die über die Form und Dynamik der Vesikel entscheiden: erstens die Membranspannung, zweitens die Vortriebskraft der aktiven Partikel und drittens deren Konzentration im Vesikel. Besonders überraschte die Forscher dabei: Bei geringen Partikelkonzentrationen beobachteten sie die größte Formenvielfalt. Weitere Untersuchungen an Vesikeln mit komplexeren Hüllen sollen im nächsten Schritt die Ergebnisse noch realitätsnäher machen.
Originalveröffentlichung: Hanumantha Rao Vutukuri et al.;
Active particles induce large shape deformations in giant lipid vesicles;
Nature, 30. September 2020, DOI: 10.1038/s41586-020-2730-x
Weitere Informationen:
Website der „Soft Materials Group“ an der ETH Zürich (engl.)