Neue Gentherapie gegen Muskelerkrankung bei Kindern angewendet
Die einjährige Lisa erhielt als erste Erlanger Patientin das erst seit Kurzem in Deutschland zugelassene Medikament Zolgensma gegen spinale Muskelatrophie
Heute kann Lisa die Hand ihrer Mutter drücken, die Arme schon etwas hochheben und hat eine kräftige Stimme. Das war nicht immer so: Im zarten Alter von nur sechs Monaten erhielt die kleine Patientin in der Neuropädiatrie der Kinder- und Jugendklinik (Direktor: Prof. Dr. Joachim Wölfle) des Universitätsklinikums Erlangen die Diagnose einer spinalen Muskelatrophie (SMA). Etwa eines von 10.000 Neugeborenen kommt mit dieser Erbkrankheit zur Welt. SMA geht mit fortschreitender Muskelschwäche und Funktionsverlust der Motoneurone im Rückenmark einher und kann bereits im frühen Kleinkindalter zum Tod führen. Prof. Dr. Regina Trollmann, Leiterin der Abteilung Neuropädiatrie, verabreichte Lisa nun als erster Erlanger Patientin die erst seit Juli 2020 in Deutschland zugelassene Gentherapie mit Zolgensma.
Alles fing mit einer Routineuntersuchung beim Kinderarzt im November 2019 an. „Er stellte fest, dass mit Lisas Hüfte etwas nicht in Ordnung war, daher ging ich mit meiner Tochter regelmäßig zur Physiotherapie“, schildert Lisas Mutter die Ausgangssituation. „Die Physiotherapeutin sprach mich dann bald darauf an, dass Lisa ihren Kopf nicht halten könne. Mein Mann und ich waren alarmiert und kontaktierten daraufhin die Kinderarztpraxis. Im Februar 2020 waren wir schließlich bei Professor Trollmann, die recht schnell die Diagnose stellte: spinale Muskelatrophie.“ Nachdem Lisa eine Woche später mit Atembeschwerden und einer Influenza-Infektion auf die Intensivstation kam, war der Mutter der Kleinen klar: „Hätten wir nicht gewusst, dass SMA zu Atembeschwerden führt, hätten wir sicherlich nicht so schnell gehandelt und gedacht, das wäre aufgrund einer normalen Grippe. Dass wir über die Erkrankung Bescheid wussten, rettete unserer Tochter vielleicht das Leben.“
Fehler in der DNA
Ursache der SMA ist ein erblicher Defekt des Survival-Motoneuron-Gens (SMN) auf dem Chromosom 5. Jeder Mensch hat neben SMN1 eine zweite, nahezu identische Gensequenz SMN2, die aber unvollständig ist und keine ausreichende Menge des Eiweißes produziert, das für das Überleben und die normale Funktion der motorischen Nervenzellen des Rückenmarks zuständig ist. Ist diese Funktion gestört, kommt es zum vorzeitigen Abbau der Motoneuronen und die normalen Impulse der Nerven werden nicht mehr richtig an die Muskeln weitergegeben.
Die Erkrankung tritt in unterschiedlich schweren Formen auf. Bei den milderen Varianten erleben immerhin etwa drei Viertel der Betroffenen das junge Erwachsenenalter. „Sie kämpfen jedoch in der Regel mit Muskelschwäche und Gelenkdeformationen, mit einer Skoliose und Lähmungserscheinungen an Armen und Beinen. Auch Schluckstörungen und chronische Schmerzen beeinträchtigen die Erkrankten erheblich“, zählt Prof. Trollmann auf. „Die schwerste Form trifft Neugeborene und Babys bis zu einem Alter von etwa sechs Monaten. Diese Kinder können ihren Kopf nicht selbstständig aufrichten und weder sitzen noch stehen. Fast drei Viertel erleben ihren dritten Geburtstag nicht, weil ihre Atemmuskulatur nicht mehr ausreichend funktionsfähig ist. Dass das neue Medikament Zolgensma betroffenen Kindern nun mit nur einer einzigen Infusion helfen kann, ist einfach sensationell.“
Einmalige Infusion anstatt regelmäßiger Lumbalpunktionen
Was auf Lisas Diagnose im Februar 2020 folgte, waren zunächst drei Dosen des seit 2017 zugelassenen Medikaments Spinraza im Abstand von jeweils zwei Wochen und eine weitere im Mai 2020. Von SMA betroffene Kinder erhalten diesen gentherapeutischen Ansatz per Lumbalpunktion, also direkt ins Nervenwasser. „Das Problem dabei ist, dass für die exakte Verabreichung eine medikamentöse Narkose erforderlich ist – das ist gerade bei muskelschwachen Kindern mit besonderen Risiken verbunden“, sagt Prof. Trollmann. „Außerdem müssen wir die Punktionen bei Kindern mit Skoliose, also mit Wirbelsäulenverkrümmungen, unter radiologischer Kontrolle durchführen.“ Lisa wurde das Präparat Spinraza im Alter von sieben bis neun Monaten jeweils unter Narkose und stationärer Überwachung verabreicht – bis ihr schließlich Anfang Oktober 2020 eine Infusion mit dem erst seit 1. Juli 2020 in Deutschland zugelassenen Medikament Zolgensma angeboten werden konnte. „Dabei reicht eine einzige Dosis des neuen Gentherapeutikums aus. Dank Zolgensma produziert jetzt jedes Motoneuron in Lisas Körper das fehlende SMN-Protein, sodass ein vorzeitiger Abbau dieser Nervenzellen verhindert wird und die Muskelkraft sich verbessern kann“, erklärt Prof. Trollmann. „Wir hatten dabei maßgebliche Unterstützung von unserer Apotheke hier am Uni-Klinikum. Die Therapie mit Zolgensma kann nur an universitären Einrichtungen und in spezialisierten Muskelzentren angeboten werden, da es ausschließlich diesen möglich ist, die notwendigen Vorbereitungen sowie die spezielle Überwachung und Nachsorge durchzuführen.“
Lisas Zustand hat sich bereits wenige Tage nach der Infusion des Gentherapeutikums gebessert: „Ihre Stimme ist viel kräftiger als vorher und beim Weinen rasselt sie jetzt nicht mehr. Auch leichte Spielzeuge hebt Lisa mittlerweile allein hoch. Ich bin zuversichtlich, dass es für sie weiter bergauf geht. Sie ist wirklich eine Kämpferin!“, freut sich die Mutter der Einjährigen. „Nach der Diagnose dachte ich noch: ‚Warum wir?‘ Aber mittlerweile blicke ich positiv in die Zukunft, denn schließlich haben wir das Medikament bekommen, das Lisa ein sorgenfreies Leben ermöglichen kann.“ Noch läuft die Kleine nicht, doch sie kämpft sich Schritt für Schritt zurück in einen normalen Alltag mit ihren Eltern und ihrem großen Bruder. „Auch wenn es noch ein Jahr dauern wird oder zwei, bis sie gehen kann, sind wir froh über die Chance, die uns Zolgensma gegeben hat“, sagt Lisas Mutter.