Spermien auf dem richtigen Weg – Forscher finden einen neuen Mechanismus der männlichen Unfruchtbarkeit

Die Zellen in unserem Körper nutzen das Erbgut, um daraus Baupläne mit Anweisungen zum Bau von Strukturen und molekularen Maschinen zu erhalten. Diese Maschinen sind sogenannte Proteine. Aber das ist noch nicht alles: Proteine können durch andere Proteine, sogenannte Enzyme, verändert werden. Dass es solche Veränderungen gibt, ist schon lange bekannt, doch erstaunlicherweise ist ihre Funktion in vielen Fällen unbekannt. So weiß man beispielsweise nicht, welche Rolle solche Veränderungen beim Protein Tubulin spielen. Tubulin bildet Mikrotubuli, lange Filamente, mit denen Gerüste in Zellen gebaut werden. Obwohl sich Mikrotubuli in allen Zellen unseres Organismus ähneln, übernehmen sie eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen. Eine sehr spezialisierte Funktion von Mikrotubuli findet sich im Spermienschwanz oder Flagellum. Die Geißeln der Spermien sind für die männliche Fruchtbarkeit und damit für die sexuelle Fortpflanzung essenziell. Sie müssen sehr präzise und koordiniert umher schlagen, um es den Spermazellen zu ermöglichen, schwimmend voranzukommen. Wenn dies nicht gelingt, kann das zu männlicher Unfruchtbarkeit führen. Damit die Spermien in gerader Linie schwimmen können, ist die Veränderung des Proteins Tubulin durch Enzyme notwendig. Eine dieser Modifikationen wird Glycylierung genannt und zählt zu den bislang am wenigsten erforschten Veränderungen von Tubulin.

Wissenschaftler am Institut Curie in Paris, dem MPI-CBG in Dresden und dem Forschungszentrum caesar in Bonn untersuchten gemeinsam mit der Universität Bonn, dem Institut Cochin in Paris und der Human Technopole in Mailand die Glycylierung genauer. Sie fanden heraus, dass beim Fehlen der Tubulin-Modifikation die Bewegungsabläufe der Geißeln gestört sind. Das führt dazu, dass die Spermien meist im Kreis schwimmen. Der Erstautor der Studie, Sudarshan Gadadhar vom Institut Curie, erklärt: „Der Kern der Spermiengeißel besteht aus Mikrotubuli, zusammen mit Zehntausenden von winzigen molekularen Motoren, genannt Dyneine, die es ermöglichen, diese Mikrotubuli rhythmisch zu biegen, um Wellen für die Bewegung und Steuerung zu erzeugen. Die Aktivität dieser Dynein-Motorproteine muss exakt koordiniert sein. Wenn die Glycylierung nicht stattfand, koordinierten sich die Motorproteine untereinander nicht und wir beobachteten, wie die Spermien plötzlich im Kreis schwammen.“

Um dies herauszufinden, arbeiteten die Autoren der Studie mit einer speziellen Art Maus, der die genetischen Baupläne für die Enzyme fehlen, die Mikrotubuli glycylieren. „Wir konnten funktionelle Defekte an Spermien von Mäusen beobachten, denen die Glycylierung fehlte, was zu einer Verminderung der Fruchtbarkeit führte. Da Mäuse für ihre hohe Fruchtbarkeit bekannt sind, könnte ein ähnlicher Defekt beim Menschen zu männlicher Sterilität führen“, so Carsten Janke vom Institut Curie und einer der Koordinatoren der Studie. Um herauszufinden, warum das Fehlen der Glycylierung zu einer gestörten Bewegung der Spermien und damit zu Unfruchtbarkeit führt, verwendete das Team Kryo-Elektronenmikroskopie, um die molekulare Struktur des Flagellums und seiner molekularen Motoren sichtbar zu machen. Die Analyse der mutierten Spermiengeißeln ergab, dass die Geißeln zwar korrekt aufgebaut waren, die Mutation aber die koordinierte Aktivität der axonalen Dyneine – der Motoren, die das Schlagen der Geißel antreiben ­– beeinträchtigte. Dies erklärt, warum Spermazellen in ihrer Schwimmbewegung beeinträchtigt sind.

Warum ist diese Entdeckung so wichtig? Die anderen Koordinatoren der Studie, Gaia Pigino vom MPI-CBG und der Human Technopole, und Luis Alvarez vom Forschungszentrum caesar, fassen zusammen: „Diese Studie zeigt, wie wichtig die Glycylierung für die Steuerung der Dynein-Motoren des Flagellums ist. Sie ist ein Paradebeispiel dafür, wie Mikrotubuli-Modifikationen die Funktion anderer Proteine in Zellen direkt beeinflussen. Unsere Ergebnisse liefern den direkten Beweis, dass Mikrotubuli eine aktive Rolle bei der Regulierung grundlegender biologischer Prozesse spielen, ermöglicht durch einen Code von Tubulin-Modifikationen. Zudem zeigt die Studie einen neuen Mechanismus, der zu männlicher Unfruchtbarkeit führen kann. Da die Spermiengeißeln nur eine von vielen Zilien-Arten in unserem Körper sind, denken wir, dass eine ähnliche Tubulin-kodierte Regulation bei verschiedenen Zilien-bezogenen Funktionen wichtig ist. Daher ermöglicht unsere Arbeit ein tieferes Verständnis verschiedener Krankheiten, wie Entwicklungsstörungen, Krebs, Nierenerkrankungen oder Atem- und Sehstörungen.“

Originalpublikation:
Sudarshan Gadadhar, Gonzalo Alvarez Viar, Jan Niklas Hansen, An Gong, Aleksandr Kostarev,
Côme Ialy-Radio, Sophie Leboucher, Marjorie Whitfield, Ahmed Ziyyat, Aminata Touré,
Luis Alvarez, Gaia Pigino, Carsten Janke: “Tubulin glycylation controls axonemal dynein activity, flagellar beat, and male fertility”, Science, 8. Januar 2021. DOI: 10.1126/science.abd4914

Über das Forschungszentrum caesar
caesar ist ein mit der Max-Planck-Gesellschaft assoziiertes Forschungsinstitut für Neuroethologie. Hier untersuchen wir, wie aus der kollektiven Aktivität der Vielzahl miteinander vernetzter Neuronen im Gehirn tierisches Verhalten in seiner ganzen Bandbreite entsteht. Unsere Forschung ist interdisziplinär und findet auf verschiedensten Größenebenen statt.

Über das Institut Curie
Das Institut Curie, Frankreichs führendes Krebszentrum, kombiniert ein international anerkanntes Forschungszentrum mit einer hochmodernen Klinikgruppe, die alle Arten von Krebs behandelt, auch die seltensten. Das 1909 von Marie Curie gegründete Institut Curie beschäftigt 3.600 Forscher, Ärzte und medizinisches Fachpersonal an drei Standorten (Paris, Saint-Cloud und Orsay), die an drei Missionen arbeiten: Behandlung, Forschung und Lehre. Als private Stiftung mit Gemeinnützigkeitsstatus ist das Institut Curie berechtigt, Spenden und Vermächtnisse entgegenzunehmen. Dank der Unterstützung seiner Spender ist es in der Lage, Entdeckungen schneller zu machen und so die Behandlungen und die Lebensqualität der Patienten zu verbessern.

Über das MPI-CBG
Das Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden ist eines von über 80 Instituten der Max-Planck-Gesellschaft, einer unabhängigen gemeinnützigen Organisation in Deutschland. 550 Menschen aus 50 Ländern aus den verschiedensten Disziplinen arbeiten am MPI-CBG und lassen sich von ihrem Forscherdrang antreiben, um die Frage zu klären: Wie organisieren sich Zellen zu Geweben?

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Human Technopole (HT) ist Italiens neues Institut für Biowissenschaften mit Sitz im Herzen von MIND (Milano Innovation District), dem Gebiet, in dem die Mailänder EXPO 2015 stattfand. Die Mission von HT ist es, die Gesundheit und das Wohl der Menschen zu verbessern, indem es: Pionierforschung in den Biowissenschaften betreibt, die darauf abzielt, neue Ansätze in der präventiven und personalisierten Medizin zu entwickeln; wissenschaftliche Dienstleistungen und Einrichtungen einrichtet und betreibt, die externen Nutzern zur Verfügung gestellt werden, um auf die Bedürfnisse der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu reagieren; die nächste Generation von Wissenschaftlern ausbildet; Innovation und Fortschritt durch Technologietransfer fördert. Sobald das Institut voll funktionsfähig ist, wird es über 1.000 Wissenschaftler aus der ganzen Welt beschäftigen.