Von leise bis laut: Synaptische Vielfalt erweitert den Bereich hörbarer Töne

Hören entsteht, wenn Haarsinneszellen im Innenohr Schall in neuronale Signale umwandeln, die an das Gehirn übertragen werden. Die Haarsinneszellen verfügen über etwa ein Dutzend Kommunikationspunkte mit den Hörnervenfasern, die sogenannten Synapsen. Wissenschaftler am Institut für Auditorische Neurowissenschaften der Universitätsmedizin Göttingen entdeckten nun, dass die Synapsen einer einzelnen Haarsinneszelle Schallinformationen unterschiedlich verarbeiten. Diese Vielfalt trägt zur neuronalen Verarbeitung eines breiten Lautstärkebereichs bei. Publiziert in The EMBO Journal.

(mbexc/umg) Das Hören ist einer unserer wichtigsten Sinne. Tatsächlich sind Hörstörungen sehr häufig: Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden etwa 466 Millionen Menschen (fünf Prozent der Weltbevölkerung) unter einer versorgungsbedürftigen Schwerhörigkeit. Die elementaren Prozesse des Hörens zu verstehen, ist eine wichtige Voraussetzung, um zukünftig bessere Methoden zur Behandlung von Schwerhörigkeit zu entwickeln. Zum Beispiel muss noch geklärt werden, wie unsere Ohren die Verarbeitung der unterschiedlichsten Lautstärken bewältigen, wie das Rascheln von Blättern in einer sanften Brise und die laute Musik in einem Rockkonzert. Hörgeräten und Cochlea-Implantaten gelingt es bislang nur sehr begrenzt, Schwerhörigen diesen breiten Lautstärkebereich zugänglich zu machen.

Dr. Özge Demet Özçete und Prof. Dr. Tobias Moser, beide Wissenschaftler*innen am Institut für Auditorische Neurowissenschaften der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), konzentrierten sich auf den ersten Kommunikationspunkt zwischen den Haarsinneszellen und Nervenfasern, die Synapsen, um diese Frage zu untersuchen. Sie fanden heraus, dass die etwa fünfzehn Synapsen einer inneren Haarzelle unterschiedliche Empfindlichkeits- und Antworteigenschaften haben. Für ihre Untersuchungen setzen sie auf ein neuartiges simultanes Bildgebungsverfahren, mit dem sich ein- und ausgehende Signale an einzelnen Synapsen zeitgleich beobachten lassen. Die Hörforscher*innen konnten zeigen, dass die Synapsen einer einzelnen Haarsinneszelle unterschiedliche Empfindlichkeiten haben und verschieden auf die gleiche Stimulation reagieren. Ihre Schlussfolgerung: Diese Vielfältigkeit der Synapsen ermöglichen es einer Haarzelle, die ausgegebenen Signale zu variieren. Dies könnte ein grundlegender Mechanismus für die neuronale Verarbeitung eines breiten Lautstärkebereichs sein.

Die Studie wurde durch den Göttinger Exzellenzcluster Multiscale Bioimaging: von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen (MBExC) und den Sonderforschungsbereich Zelluläre Mechanismen sensorischer Verarbeitung (SFB889) gefördert. Die Forschungsergebnisse sind in der renommierten Fachzeitschrift The EMBO Journal veröffentlicht.

Originalpublikation: Özçete ÖD, & Moser T (2020) A sensory cell diversifies its output by varying Ca2+ influx-release coupling among presynaptic active zones for wide range intensity coding, The EMBO Journal (2020) e106010.
https://doi.org/10.15252/embj.2020106010

Forschungsergebnisse im Detail

Beim Hören werden Schallwellen vom Außenohr auf das Trommelfell geleitet, das die kleinen Gehörknöchelchen im Mittelohr in Schwingung versetzt, die schließlich die Cochlea im Innenohr mechanisch reizen. In der Cochlea lenken die von den Schallwellen verursachten Schwingungen die Haarbündel der inneren Haarzellen aus, aktivieren deren Ionenkanäle und laden sie dadurch elektrisch auf. Diese elektrische Umladung der Zelle, Rezeptorpotential genannt, aktiviert die Synapsen an der Basis der Zelle. Je lauter der Schall, desto stärker ist das Rezeptorpotential. An der Synapse aktiviert das Rezeptorpotential die Kalziumkanäle, die Kalziumionen in die Zelle eindringen lassen. Kalzium wirkt als Botenstoff, der die Freisetzung von Neurotransmittern aus den synaptischen Vesikeln auslöst. Diese Neurotransmitter aktivieren dann die Nervenfasern, wodurch die Schallinformationen als Nervenimpulse weiter zum Gehirn geleitet werden.

Die Göttinger Wissenschaftler*innen sind in ihrer Studie genauer der Frage nachgegangen, wie das Rezeptorpotential einzelne Synapsen zur Freisetzung von Botenstoffen aktiviert. Mit Hilfe elektrophysiologischer und bildgebender Verfahren untersuchten sie die Erhöhung der intrazellulären Kalzium-Konzentration und der Neurotransmitter-Freisetzung an den Synapsen der inneren Haarzelle. Dabei fanden sie heraus, dass verschiedene Synapsen einer Haarzelle auf das gleiche Rezeptorpotential unterschiedlich reagierten. Die Synapsen unterschieden sich in der Erhöhung der intrazellulären Kalzium-Konzentration und in der Kalziumabhängigkeit der Neurotransmitter-Freisetzung.

Darüber hinaus gewannen die Wissenschaftler*innen neue Erkenntnisse zu der räumlichen Organisation der Synapsen innerhalb der inneren Haarzelle: Die Synapsen auf der den Nervenzellkörpern abgewandten Seite (abneurale Seite) der Zelle setzten Neurotransmitter bereits bei schwächeren Potentialen frei. Sie hatten typischerweise eine engere Kopplung von Kalziumkanälen und Neurotransmitter-Freisetzung als die Synapsen auf der anderen Seite (neurale Seite) der Zelle (Abbildung).

„Mittels Bildgebung konnten wir erstmals die Kopplung von Kalziumkanälen und Neurotransmitter-Freisetzung an einzelnen Synapsen untersuchen und dabei sogar mehrere Synapsen einer inneren Haarzelle analysieren“, sagt Dr. Özge Demet Özçete, Erstautorin der Publikation. „Unsere vorherigen Arbeiten hatten bereits erste Hinweise für eine Diversität der Kalziumsignale der Haarzellsynapsen ergeben. Die nun gewonnene zusätzliche Information über die Transmitterfreisetzung erlaubt es uns, dieses Phänomen zu den Nervenzellantworten auf Schall in Beziehung zu setzen“, sagt Prof. Dr. Tobias Moser, Senior-Autor der Publikation. „Auf diese Weise verbinden wir im Exzellenzcluster MBExC molekulare Bildgebung einzelner Sinneszell-Synapsen mit der Funktion des neuralen Netzwerks, das uns Hörwahrnehmung ermöglicht“, so Moser.

Drei Synapsen-Subtypen

Durch den Einsatz eines maschinellen Lernverfahrens fanden die Göttinger Forscher*innen drei mutmaßliche Synapsen-Subtypen innerhalb einer inneren Haarzelle. Damit konnte eine Verbindung zu einer klassischen Beobachtung in der Hörphysiologie hergestellt werden: Die Synapsen, die bei schwächeren Potenzialen aktiv sind, könnten die Hörnervenfasern antreiben, die besonders empfindlich auf den Schall reagieren. Es wird angenommen, dass die Zusammenarbeit der Hörnervenfasern mit unterschiedlicher Schallempfindlichkeit wichtig für die Verarbeitung eines breiten Lautstärkebereichs ist.

Das Göttinger Exzellenzcluster 2067 Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen (MBExC) wird seit Januar 2019 im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert. Mit einem einzigartigen interdisziplinären Forschungsansatz untersucht MBExC die krankheitsrelevanten Funktionseinheiten elektrisch aktiver Herz- und Nervenzellen, von der molekularen bis hin zur Organebene. Hierfür vereint MBExC zahlreiche universitäre und außeruniversitäre Partner am Göttingen Campus. Das übergeordnete Ziel: den Zusammenhang von Herz- und Hirnerkrankungen zu verstehen, Grundlagen- und klinische Forschung zu verknüpfen, und damit neue Therapie- und Diagnostikansätze mit gesellschaftlicher Tragweite zu entwickeln.

Weitere Informationen:
Institut für Auditorische Neurowissenschaften: http://www.auditory-neuroscience.uni-goettingen.de/
zum MBExC: https://mbexc.de/
zum SFB889: www.sfb889.uni-goettingen.de