Seltene Erkrankungen sind insgesamt häufig und haben fast immer eine neurologische Beteiligung

Jedes Jahr findet am 28. Februar der ‚Internationale Tag der Seltenen Erkrankungen‘ statt. Über 6.800 solcher Erkrankungen sind bekannt, ein Großteil davon betrifft das Gehirn und das Nervensystem, ihre Behandlung fällt somit in das Fachgebiet Neurologie. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) ist in verschiedenen Netzwerken aktiv, auch international, um seltene Erkrankungen zu erforschen und Therapieoptionen zu entwickeln. Die Neurologie leistet als Schlüsselmedizin des 21. Jahrhunderts einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Versorgung und Lebensqualität von Menschen mit seltenen Erkrankungen.

Als selten gilt eine Erkrankung, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Einer Auswertung aus dem Vorjahr zufolge sind 84,5% aller seltenen Erkrankungen sogar ‚ultra-selten‘, d.h., dass weniger als einer von 1.000.000 Menschen betroffen ist [1]. Hört sich wenig an, allerdings leiden in Deutschland etwa 5 % der Bevölkerung, immerhin ca. vier Millionen Menschen, an einer seltenen Erkrankung. Die Zahl dieser Erkrankungen wird insgesamt auf über 6.800 geschätzt [2]. Das heißt, in der Summe sind ‚die Seltenen‘ eigentlich häufig. Dennoch führt die vermeintliche Seltenheit dazu, dass bestimmte Krankheitsbilder oft in der Forschung und Versorgung „unter dem Radar“ bleiben. Diagnostik und Therapie sind dann schwierig und langwierig, häufig gibt es auch keine Therapieoptionen. Aktuell stehen nur für etwa 10 % der seltenen Erkrankungen gezielte Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung.

Anliegen des jährlichen Tages der Seltenen Erkrankungen ist, diese oft vernachlässigten Erkrankungen, die im Englischen als sogenannte Waisenkinder-Erkrankungen („Orphan Diseases“) bezeichnet werden, in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Denn die Betroffene leiden häufig nicht nur an der Erkrankung, sondern vor allem auch an der Ungewissheit: Der Weg zur Diagnose ist oft lang, viele durchleben eine Odyssee von Arzt zu Arzt, ehe ihnen Hilfe zuteil wird. So soll die Öffentlichkeit darüber informiert werden, dass es in Deutschland verschiedene Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE) gibt, so etwa an den Universitäten Berlin, Tübingen, Hamburg, Bonn und Lübeck. Viele dieser Zentren wurden von Neurologinnen und Neurologen ins Leben gerufen, denn für die Neurologie gehören seltene Erkrankungen zum ‚Kerngeschäft‘: Viele der seltenen Erkrankungen sind neurologische Erkrankungen, wie z.B. die Spinozerebelläre Ataxie (SCA), eine Erkrankung des Kleinhirns mit Koordinationsstörung von Bewegungsabläufen, die Paroxysmale kinesiogene Dyskinesie (PKD), ebenfalls eine Bewegungsstörung mit anfallartig auftretenden unwillkürlichen Bewegungen, die Spinale Muskelatrophie (SMA), Tumorerkrankungen wie die Neurofibromatose, aber auch entzündliche Erkrankungen wie die zerebrale Vaskulitis (PACNS, primary angiitis of the central nervous system). Hinzu kommt: Bei etwa 80 % aller seltenen Erkrankungen kommt es zu einer Beteiligung des Nervensystems, auch wenn es sich nicht um primär neurologische Erkrankungen handelt.

„Die Neurologie ist also in besonderem Maße gefragt. Aufgrund der geringen Häufigkeit einzelner und des speziellen Charakters seltener Erkrankungen erfordert die Erforschung nicht nur eine nationale, sondern eine internationale Vernetzung“, betont DGN-Präsident Prof. Dr. Christian Gerloff, Direktor der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er sieht es als originäre Aufgabe der DGN an, als ‚Hub‘ im Bereich seltener Erkrankungen zu fungieren. Zur systematischen Erfassung und Bündelung von Wissen arbeitet die DGN intensiv mit der Deutschen Akademie für Seltene Neurologische Erkrankungen (DASNE; www.dasne.de) zusammen, in der die DGN-Past-Präsidentin Professor Christine Klein, Lübeck, als federführende Expertin vertreten ist. Darüber hinaus unterhält die DGN enge Kontakte mit internationalen Verbünden, wie beispielsweise dem Europäischen Referenznetzwerk für seltene Erkrankungen ‚Rare Neurological Diseases‘ (ERN-RND) und ‚Rare Neuromuscular Diseases‘ (ERN-EuroNMD). Ziele sind, gemeinsame Register und Forschungsprojekte aufzulegen, Therapien und Leitlinien für den besten Behandlungsstandard zu entwickeln und durch moderne Fortbildungsformate das Wissen in die Breite der neurologischen Versorgung zu tragen.

„Wir möchten die Versorgung und damit die Lebensqualität jedes Menschen mit einer seltenen Erkrankung verbessern“, führt die Past-Präsidentin und Neurogenetikerin Prof. Klein aus. Dafür müsse die Forschung gefördert und insbesondere deren Finanzierung besser gesichert werden. Die Mehrzahl seltener Krankheiten habe eine genetische Ursache. Deshalb gehen auch viele der bisher erreichten Fortschritte in Diagnostik und Therapie seltener erblicher Erkrankungen mit neurologischen Manifestationen auf den rasanten Wissenszuwachs aus der neurogenetischen Forschung zurück. Wie z.B. bei der vor allem Kinder betreffende neuromuskulären Erbkrankheit Spinale Muskelatrophie, für die es heute Medikamente gibt, die an der Ursache der Erkrankung ansetzen und ihr Fortschreiten aufhalten können. Aber auch andere neurologische Grundlagenfächer tragen zu Therapieinnovationen bei: Vor kurzem gelang es einem internationalen Team von Neuroimmunologen, die Entstehung des sog. Susac-Syndroms, einer seltenen Form der autoimmunen zerebralen Vaskulitis (Gefäßentzündung), auf molekularer Ebene zu entschlüsseln und eine zielgerichtete Therapie zu finden, in dem Fall ein bereits auf dem Markt verfügbares Medikament, das bisher vorwiegend zur Therapie der Multiplen Sklerose eingesetzt wurde.

„Das zeigt, wie wichtig die neurologische Grundlagenforschung und ein zügiger Translationsprozess sind. Noch warten viele Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen auf einen derartigen „Durchbruch“, aber in den letzten Jahren konnte bereits viel Wegweisendes erreicht werden. Gerade im Bereich der seltenen Erkrankungen hat sich die Neurologie wie kein anderes Fach als Schlüsselmedizin etabliert. Wir möchten die Innovationskraft der Neurologie weiter stärken, indem wir Forschungsstrukturen ausbauen und den wissenschaftlichen Nachwuchs für die neurologischen Grundlagenfächer begeistern“, erklärt DGN-Präsident Prof. Gerloff zum ‚Internationalen Tag der Seltenen Erkrankungen‘.

Literatur

[1] Stéphanie Nguengang Wakap, Deborah M. Lambert, Annie Olry et al. Estimating cumulative point prevalence of rare diseases: analysis of the Orphanet database. Eur J Hum Genet. 2020 Feb; 28(2): 165–173.

[2] https://www.genome.gov/FAQ/Rare-Diseases