Forscher entdecken Mechanismus zur Diagnose zweier seltener neurodegenerativer Erkrankungen
Mit einigen Tausend Betroffenen weltweit gehören die Chorea-Akanthozytose und das McLeod-Syndrom zur Gruppe der Neuroakanthozytose-Syndrome. Die Diagnose der seltenen Krankheiten ist aufwändig, da sie meist mit einer Gen-Analyse festgestellt werden. Der Biophysiker Lars Kaestner und sein Team haben nun eine sehr einfache Methode entdeckt, die eine flächendeckende Untersuchung erlauben würde: die Blutsenkung. Ihre Erkenntnisse haben sie im Fachjournal „Cells“ veröffentlicht.
Die Betroffenen leiden an Krampfanfällen, haben Schwierigkeiten beim Essen oder entwickeln Störungen wie unwillkürliche abrupte Bewegungen, die Extremitäten, aber auch Gesicht und Körper betreffen können und die Patienten unruhig erscheinen lässt. Nur wenige Tausend Menschen weltweit leiden an den seltenen Erkrankungen des McLeod-Syndroms und der Chorea-Akanthozytose. Bei diesen zur Gruppe des Neuroakanthozytose-Syndroms gehörenden Krankheiten verformen sich die roten Blutkörperchen (Erythrozyten), ausgelöst durch einen Gendefekt, stachelförmig und lösen in der Folge diverse neurologische Probleme aus, die im schlimmsten Fall tödlich enden können. Wie dieser Zusammenhang zwischen genetischer Mutation, der Verformung der Blutkörperchen und letztendlich der neurologischen Symptome ist, ist bisher nicht klar. In Deutschland gibt es zwei neurologische Zentren, die sich mit Neuroakanthozytosen beschäftigen; an der TU München und am Universitätsklinikum Rostock. Spezialisten für rote Blutzellen gibt es dort allerdings kaum, so dass die spezifische Verformung der roten Blutzellen bisher nicht hinreichend erforscht ist.
Hier kommt Lars Kaestner ins Spiel. Der Biophysiker ist Fachmann für die Biologie und Physik von Blutzellen. Welche Schwierigkeiten es bei der Diagnose der beiden Formen von Neuroakanthozytose gibt, erklärt er folgendermaßen: „Man kann die Neuroakanthozytosen gut per genetischer Analyse diagnostizieren. Da die Krankheiten allerdings extrem selten sind und sehr unterschiedliche Symptome haben, werden sie oft erst sehr spät diagnostiziert, und teuer ist die Genanalyse überdies.“ Theoretisch kann man die typische stachelartige Zellform auch gut in Blutausstrichen sehen. Doch auch hierbei gibt es eine praktische Schwierigkeit, weiß Lars Kaestner: „Denn es gibt auch eine natürliche Form dieser stachelartigen Verformung. Diese und die durch den Gendefekt entstandene Form kann man nur schwer voneinander unterscheiden.“
Lars Kaestner und seine Kollegen haben sich nun eine wirksame neue Methode angeschaut, um Neuroakanthozytosen zu diagnostizieren, die zugleich eine sehr alte Methode ist: „Wir haben uns das Blut von erkrankten Probanden in der Blutsenkung angeschaut“, erklärt er. „Hier beobachten wir einfach, wie schnell die roten Blutkörperchen in einem Röhrchen nach unten sinken.“ Die Blutsenkung ist schon seit Jahrhunderten bekannt. „Man wusste bereits in der Antike, dass sich die festen Bestandteile im Blut absenken“, sagt Lars Kaestner. „Im letzten Jahrhundert hat man dann festgestellt, dass die festen Bestandteile schneller zu Boden sinken, wenn eine Entzündung vorliegt. Im Grunde genommen blieb die Blutsenkung aber eine recht unspezifische Diagnosemethode, daher hat sie im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren“, erläutert er die Geschichte.
Bei den Neuroakanthozytose-Syndromen haben Kaestner und sein Team nun herausgefunden, dass die Blutsenkung extrem langsam vonstatten geht, „also genau umgekehrt wie in den früheren Fällen, die man bei Entzündungen beobachten konnte“. Dabei gibt es nach ihren Beobachtungen einen recht klar festgelegten Zeitpunkt von zwei Stunden. Nach dieser Zeit gibt es einen klaren Unterschied zwischen Neuroakanthozytose-Patienten und gesunden Probanden. „Zehn Millimeter sind bei unseren Röhrchen der Grenzwert“, sagt Lars Kaestner. Das Absinken selbst können wir physikalisch auch ganz neu erklären: „Wenn rote Blutkörperchen unbewegt sind, bilden sie Bündel, die an Geldrollen erinnern. Neu ist nun der Ansatz, dass sich diese ‚Geldrollen‘zu einer Art Gel verbinden, das dann kollabiert und sich absenkt“, so die Beobachtung. Damit hat das Team gleich auch die physikalischen Grundlagen der Blutsenkung neu geschrieben.
„Die Blutsenkung ist natürlich keine hundertprozentig sichere Diagnosemethode. Diese Sicherheit kann nach wie vor nur über eine Genanalyse hergestellt werden. Aber damit haben die Mediziner, die diese seltenen Krankheiten behandeln, eine sehr einfache und sehr günstige Methode an der Hand, um diese Krankheiten flächendeckend zu testen“, so Lars Kaestner. Denn: Verhalten sich die Blutbestandteile nicht wie in der Studie beschrieben, handelt es sich nicht um eine Neuroakanthozytose. Verhalten sie sich hingegen so, können genetische Analysen die Diagnose vervollständigen.
Die StudieAcanthocyte sedimentation rate as a diagnostic biomarker for neuroacanthocytosis syndromes: experimental evidence and physical justification ist am 2. April im Fachmagazin Cells erschienen. https://doi.org/10.3390/cells10040788