„In manchen Ländern sind die Geburtenzahlen regelrecht abgestürzt“

Durch die Coronapandemie ist es in vielen Ländern zu einem Rückgang der Geburtenzahlen gekommen, wie aktuelle Untersuchungen von Demograph/innen der ÖAW zeigen. Gründe dafür sind wirtschaftliche aber auch gesundheitliche Sorgen. Wie rasch sich die Geburtenzahlen nach der Pandemie wieder erholen könnten, ist offen, sagt der Bevölkerungswissenschaftler Tomáš Sobotka.

Führen Lockdowns zu mehr Kindern? Eher nicht. Wie Erhebungen von Forschenden des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) zeigen, gibt es keinen Babyboom durch Corona. Eher das Gegenteil ist der Fall. „In manchen Ländern sind die Geburtenzahlen seit Ausbruch der Pandemie regelrecht abgestürzt“, erklärt ÖAW-Demograph Tomáš Sobotka. Er und seine Kolleg/innen haben in einer Datenbank die aktuellsten Geburtenzahlen zusammengestellt und ihre vorläufigen Ergebnisse nun auf der Pre-Print Plattform SocArXiv für die Scientific Community publiziert. Die wichtigsten Erkenntnisse der Untersuchung schildert Sobotka im Interview.

Sie arbeiten an einer detaillierten Datenbank zu Fertilitätstrends in mehr als 30 Ländern. Gibt es seit Beginn der Pandemie einen Babyboom oder einen Geburtenknick?

Tomáš Sobotka: Was die Ergebnisse klar zeigen: In keinem einzigen Land sind die Geburtenzahlen seit Ausbruch der Pandemie bis Jahresbeginn 2021 gestiegen. Natürlich gibt es große Unterschiede in der Entwicklung der Geburtenraten, auch weil die verschiedenen Länder unterschiedlich von der Pandemie und den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus betroffen waren. Dennoch: Eindeutig kein Babyboom.

Wie unterschiedlich wird die Entscheidung für oder gegen Kinder durch Covid-19 in Europa beeinflusst?

Sobotka: In manchen Ländern sind die Geburtenzahlen seit Ausbruch der Pandemie regelrecht abgestürzt. Der Rückgang liegt in Spanien bei 20 Prozent und ist auch in anderen südeuropäischen Ländern wie in Italien und in Portugal sehr stark. Dieser Abwärtstrend ist vor allem in Ländern zu bemerken, die in der ersten Welle der Pandemie hohe Infektionszahlen und Todesfälle zu beklagen hatten. Dazu kommen ökonomische Unsicherheiten. Oder das Beispiel Ungarn: Zu Beginn des Jahres 2020 stieg dort die Geburtenzahl und brach dann ab November völlig ein. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Coronavirus dem anhaltenden leichten Anstieg der Geburtenzahl einen Riegel vorgeschoben hat.

Eine Nebenwirkung der Pandemie sind also geburtenschwache Jahrgänge?

Sobotka: Ja. Das können wir auch in Österreich beobachten, wo die Zahl der Geburten um fast vier Prozent im November und 5,5 Prozent im Dezember 2020 im Vergleich zu den Monaten des Vorjahres zurückgegangen ist. Ein ähnliches Bild ergibt sich in den Vereinigten Staaten, in Belgien, in Frankreich, auch dort hat sich der Abwärtstrend in den Geburtenzahlen beschleunigt. Und in zwölf EU-Länder ist die Zahl der Geburten im Dezember 2020 um 8,7 Prozent und im Januar 2021 sogar um 12 Prozent gesunken. Gleichzeitig scheint die Pandemie in einigen nordischen Ländern wie Finnland, Norwegen und Dänemark, aber auch in Tschechien bisher keinen Einfluss auf die Fertilität zu haben.

Sind diese unterschiedlichen Entwicklungen auf das Infektionsgeschehen zurückzuführen – oder spielen auch die Maßnahmen zur Infektionskontrolle eine Rolle?

Sobotka: Beides. Wenn die Regierung eines Landes trotz niedriger Infektionszahlen einen Lockdown verhängt und die Schulen schließt, dann sind natürlich alle Menschen davon betroffen. Das gilt auch für die wirtschaftlichen Folgen, die realen wie die gefühlten. In manchen Ländern müssen sich Familien angesichts steigender Arbeitslosigkeit um ihr Einkommen sorgen, während es in anderen Ländern größere soziale Sicherheitssysteme gibt.

Sind es vorrangig ökonomische Unsicherheiten, weshalb Paare ihre Kinderwunschpläne auf Eis legen?

Sobotka: Es gibt auch gesundheitliche Sorgen, die schwer zu quantifizieren und kaum zu messen sind. Etwa wenn Frauen Angst davor haben, während der Infektion schwanger zu werden oder befürchten, dass sie sich im Krankenhaus infizieren könnten. Lockdowns machen es zudem für einige jüngere Paare schwieriger, sich zu treffen und intime Beziehungen zu führen.

Ein anderer Grund: Die Verfügbarkeit von Großeltern für die Kinderbetreuung ist während der Covid-Pandemie stark zurückgegangen. Kinderbetreuung ist jetzt schwieriger zu organisieren. Der damit verbundene Stress und die hohe Arbeitsbelastung für viele Mütter hat wahrscheinlich auch dazu beigetragen, dass Paare mit ein oder zwei Kindern weitere Kinderwünsche auf Eis gelegt haben. Noch ein kleines Detail: Die assistierte Reproduktion wurde in einigen Ländern zu Beginn der Pandemie unterbrochen. Die Kliniken waren geschlossen und Frauen hatten keinen Zugang zu künstlicher Befruchtung.

Welche Länder sind in der Datenbank über Geburten und Fertilitätstrends vertreten?

Sobotka: Von Russland über Südkorea, von Taiwan bis Rumänien. Es sind sehr unterschiedliche Länder dabei. Wir haben uns auf Länder konzentriert, die eine vollständige Erfassung der Geburten haben und über eine relativ gut dokumentierte amtliche Statistik verfügen. Denn: Um die Auswirkungen der Pandemie in einem kürzeren Zeitraum untersuchen zu können, ist es wichtig kurzfristige wöchentliche oder monatliche Daten zu erhalten und zu aktualisieren.

Vermuten Sie, dass nach der Überwindung der Pandemie die Geburtenraten wieder ansteigen werden?

Sobotka: Ein Blick in die Zukunft ist natürlich spekulativ. Viele Länder werden mit den langfristigen wirtschaftlichen Folgen des Coronavirus konfrontiert sein. Denken wir zum Beispiel an Italien oder Spanien, wo die Arbeitsmarktsituation schon vor der Pandemie schlecht war. Für Österreich wird der Abwärtstrend wohl nicht so stark sein, wie wir es in Italien oder Spanien gesehen haben. Innerhalb der nächsten zwei oder drei Jahre könnten die Geburtenraten wieder dort sein, wo sie vor ein paar Jahren waren.

Aber: In einigen Ländern bekommen Frauen bereits jetzt ihre Kinder in einem relativ späten Alter. Aufgrund altersbedingter Unfruchtbarkeit kann sich auch die künftige Erholung der Geburtenraten verlangsamen.

AUF EINEN BLICK

Tomáš Sobotka leitet die Forschungsgruppe „Fertilität und Familie“ am Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Der Bevölkerungswissenschaftler und ERC-Preisträger studierte an der Universität Prag und promovierte an der niederländischen Universität Groningen.

Die Datenbank „The Human Fertility Database“ versammelt aktuelle Zahlen zur Entwicklung von Geburten in mehr als 30 Ländern. Sie wird betrieben vom Institut für Demographie der ÖAW und vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. Über ihren neuesten Ergebnisse berichten die Wissenschaftler/innen auf der Pre-Print Plattform SocArXiv sowie bei einem Online-Colloquium am 21. April um 14 Uhr.