Meine Kindheit – Deine Kindheit
Lang angelegte Studie untersucht Einfluss von Kindheitserfahrungen auf Mütter und deren Kinder – auch während der Coronapandemie
Schlechte Erfahrungen in der Kindheit und vor allem Missbrauch und Vernachlässigung können das ganze Leben eines Menschen beeinflussen. Doch werden diese Erfahrungen auch über Generationen weitergegeben? Bisher ist kaum erforscht, welchen Einfluss eigene Kindheitserfahrungen auf das Wohlbefinden von Müttern, den Beziehungsaufbau zum Kind oder die kindliche Entwicklung haben. Genauso wichtig ist die Frage, welche Risiko- und Schutzfaktoren eine mögliche Weitergabe eventuell begünstigen oder hemmen. Unabhängig der Vorerfahrungen birgt die aktuelle Belastung durch die Pandemie besonders für junge Familien viele bisher unbekannte Belastungen und Herausforderungen. In der lang angelegten Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“, die bereits 2013 startete, gehen Psycholog*innen, Biolog*innen und Mediziner*innen der Ulmer Universitätsmedizin gemeinsam diesen Fragen nach. Seit fast acht Jahren begleiten sie 158 teilnehmende Familien – nun auch während der Coronapandemie.
Die Begleitung der teilnehmenden Familien begann bereits kurz nach der Geburt ihrer Kinder. Seitdem haben die Forscher*innen die Familien drei und 12 Monate nach der Geburt, im Alter der Kinder von circa drei Jahren und aktuell im Vorschul- bzw. Grundschulalter besucht. Um Informationen über mütterliche Kindheitserfahrungen und die Beziehung zwischen Mutter und Kind zu erhalten, setzen die Wissenschaftler*innen persönliche Gespräche, Fragebögen und Entwicklungstests ein und beobachten Mütter und Kinder in Spielsituationen. Zusätzlich werden unterschiedliche biologische Daten wie beispielsweise Haar- und Speichelproben gesammelt, bei denen der Spiegel des Stresshormons Cortisol gemessen wird. So können Risiko- und Schutzfaktoren für eine Weitergabe von Kindheitserfahrungen auf die nächste Generation auch aus biologischer und medizinischer Sicht untersucht werden. Die Forscher*innen wollen aktuell außerdem herausfinden, wie sich die Coronapandemie auf die Teilnehmenden auswirkt Denn durch Homeschooling und die Betreuung zuhause anstatt im Kindergarten sind Familien mit jungen Kindern besonders betroffen. „Wir gehen davon aus, dass sich eine Vorbelastung wie beispielweise mütterliche Missbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen zusätzlich auf die Bewältigung der Coronapandemie auswirken kann. Daher befragen wir aktuell alle Mütter auch ganz konkret zu dieser Belastung,“ erklärt Projektleiter Prof. Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie. „Die vielen persönlichen Telefonate und Email-Kontakte mit den einzelnen Familien machen jedoch auch deutlich, dass unabhängig von der mütterlichen Vorgeschichte, die meisten Familien von pandemiebedingten Belastungen berichten und dass es besonders darum geht, neue Strukturen zu schaffen und Herausforderungen kreativ zu lösen.“
Die immer wieder geltenden Kontaktbeschränkungen werfen jedoch nicht nur neue Fragestellungen auf, sondern erschweren die Arbeit der Forscher*innen, die ihre Arbeitsweise den neuen Bedingungen anpassen mussten. „Zum Schutz der Familien konnten und können Hausbesuche teilweise nicht wie geplant stattfinden, weshalb wir auf Online-Befragungen und vor allem persönliche Telefonate ausweichen“, sagt Prof. Jörg Fegert. „Wir sind sehr dankbar, dass die Familien, insbesondere die Mütter und ihre Kinder, trotz der wirklich sehr schweren Situation weiterhin an unserer Studie teilnehmen. Sie ermöglichen uns damit, mögliche Faktoren einer Weitergabe solcher belastenden Erfahrungen an die nächste Generation zu untersuchen. Als zukünftiger Standort des Deutschen Zentrums für Kinder- und Jugendgesundheit sind wir in Ulm froh, dass genau solche langfristigen Untersuchungen wichtige Beiträge zum Erkenntnisfortschritt leisten.“
Langfristiges Ziel der Studie ist es, spezifische Unterstützungsangebote für Mütter mit belastenden Kindheitserfahrungen bereitstellen zu können und den Zugang zu Hilfen zu erleichtern. An dem Projekt sind am Universitätsklinikum Ulm neben der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie die Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie die Abteilung für Klinische und Biologische Psychologie der Universität Ulm, das Institut für Biologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und das Deutsche Jugendinstitut München e. V. beteiligt.