Neue S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Hirntumoren: Molekulare Diagnosekriterien mitunter bedeutsamer als die herkömmliche WHO-Klassifikation
Heute wurde die aktualisierte S2k-Leitlinie für die Diagnostik und Therapie von Gliomen (Hirntumoren) im Erwachsenenalter auf dgn.org und bei der AWMF veröffentlicht [1]. Die unter der Federführung von Prof. Dr. Wolfgang Wick, Heidelberg, aktualisierte Leitlinie umfasst alle wichtigen Informationen zu Diagnostik, Therapie, Nachsorge und Rehabilitation bei erwachsenen Patientinnen/Patienten mit Gliomen. Wichtigste Neuerung: Die molekulare Diagnostik bei der Gliom-Klassifizierung gewinnt zunehmend an Bedeutung für die Prognoseabschätzung, aber auch für die rechtzeitige Initiierung zielgerichteter Therapien und für die Definition völlig neuer Gliom-Subgruppen.
Jährlich erkranken etwa 7.000 Menschen in Deutschland an einem Tumor des zentralen Nervensystems (ZNS) [2]. Die häufigsten primären Hirntumoren sind Gliome mit einer jährlichen Inzidenz von 5-6 auf 100.000 Menschen [1]. Diese Tumoren des zentralen Nervensystems (ZNS) finden sich meistens im Gehirn, nur sehr selten ist das Rückenmark betroffen. Ursprungszellen der Gliome sind die Gliazellen (Nerven-Stützgewebe). Die Gliome werden nach ihrer Malignität in die WHO-Grade 1-4 eingeteilt (Grad 1 entspricht einem gutartigen Tumor, Grad 2-4 bösartigen Tumoren).
Die Kernaussagen der Leitlinie wurden in einem formalen Abstimmungsprozess von allen beteiligten Fachgesellschaften und Organisationen bewertet. Alle Empfehlungen erreichten letztlich einen Konsens von > 95 %. Neben der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) waren an der Leitlinie die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC), die Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie (DGNN), die Deutsche Gesellschaft für Neuroradiologie (DGNR), die Deutsche Hirntumorhilfe (DHH), die Deutsche Gesellschaft für Radioonkologie e. V. (DEGRO), die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG), die Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) und die Schweizerische Neurologische Gesellschaft (SNG) sowie die Patientenvertretung der Deutschen Hirntumorhilfe (DHH) beteiligt.
Neben der Standarddiagnostik mit Magnetresonanztomografie sowie Histologie nach Operation oder durch Biopsie werden nun auch molekulare Diagnosekriterien aufgeführt. Dabei werden entsprechend dem c-IMPACT-NOW („Consortium to Inform Molecular and Practical Approaches to CNS Tumor Taxonomy – Not Officially WHO“) besonders bei Glioblastomen molekulare Marker eingesetzt (z. B. Mutationen der IDH bzw. Isozitratdehydrogenase). Die DNA-Analyse (Methylierungsmuster) von Tumormaterial ermöglicht eine weitere Differenzierung von Gliom-Subtypen. Nach den WHO-Kriterien von 2016 gelten Oligoastrozytome und die Gliomatosis cerebri, da sie keine spezifischen Genmuster besitzen, nicht mehr als eigene Tumorentitäten. Die an c-IMPACT-NOW angelehnte neue WHO-Klassifikation der Hirntumore wird im Herbst 2021 publiziert.
Durch die so verbesserte diagnostische Tumorcharakterisierung kann die Therapie optimiert und personalisiert werden. Entscheidend ist die möglichst vollständige Operation, gefolgt von der Strahlentherapie zur Kontrolle des lokalen Tumorwachstums. Als wichtigstes Medikament gilt das Zytostatikum Temozolomid, das die Blut-Hirn-Schranke überwindet und ein günstiges Sicherheitsprofil besitzt.
Neues bei diffusen Gliomen des WHO-Grads 2 und bei WHO-Grad-3 (anaplastischen)-Gliomen
Nach den Ergebnissen der EORTC-22033-Studie („European Organization for Research and Treatment of Cancer“) fanden sich beim Vergleich einer Chemotherapie mit Temozolomid und der Radiotherapie hinsichtlich des Gesamt- sowie progressionsfreien Überlebens keine Unterschiede. Die RTOG-9802-Studie („Radiation Therapy Oncology Group“) bestätigte die Überlegenheit der Strahlen-Chemotherapie mit Procarbazin, Lomustin und Vincristin gegenüber der Radiotherapie alleine.
Die EORTC-26053-Studie ergab, dass bei WHO-Grad-3-Gliom (ohne 1p/19q-Deletion, jedoch nur bei IDH-Mutation) die Bestrahlung, gefolgt von zwölf Zyklen einer Erhaltungstherapie mit Temozolomid das Überleben gegenüber einer alleinigen Bestrahlung verlängert.
Patienten mit fortschreitenden niedriggradigen Gliomen, die eine sogenannte BRAF-V600E-Mutation aufweisen, können von der medikamentösen Behandlung mit einem Proteinkinase-Inhibitor profitieren, genauer einem BRAF (Serin/Threonin-Kinase B-Raf)-Hemmer, wie z.B. Vemurafenib oder Dabrafenib.
Neues bei Glioblastomen (WHO-Grad 4)
Der Standard-Strahlenchemotherapie sollten (bei normofraktionierter Radiotherapie) sechs Erhaltungstherapie-Zyklen mit Temozolomid folgen (außer bei älteren Patienten). Zur Primärbehandlung älterer Glioblastom-Patienten war die sogenannte hypofraktionierte Radiochemotherapie mit Temozolomid (mit bis zu zwölf Erhaltungszyklen) der alleinigen Strahlentherapie überlegen (NCIC-CE.6/EORTC-26062-Studie).
Nach erfolgreicher Radiochemotherapie kann eine Therapieergänzung mit schwachen elektrischen Wechselfeldern das progressionsfreie und Gesamtüberleben bei neu diagnostiziertem Glioblastom verlängern. Die Vorteile der Therapie, aber auch die mögliche individuelle Belastung (Tragen der Kopfhaube), sollten mit den Patienten besprochen werden.
Beim Vorliegen bestimmter molekularer Tumoreigenschaften („MGMT“- bzw. Methylguanin-DNA-Methyltransferase-Promotormethylierung) kann nach den Ergebnissen der NOA-08-Studie eine alleinige Radio- oder Chemotherapie erfolgen. Bei Patienten mit MGMT-Promotor-methylierten Glioblastomen kann Lomustin in der Primärtherapie zusätzlich zur Radiochemotherapie mit Temozolomid das Überleben verbessern.
Bei der Behandlung von Glioblastom-Rückfällen verlängert die Kombinationstherapie mit Lomustin und dem Angiogenesehemmer Bevacizumab das progressionsfreie, nicht aber das Gesamtüberleben. Bei progredientem Glioblastom gibt es keine Evidenz zur Fortsetzung einer laufenden Therapie mit Bevacizumab, elektrischen Wechselfeldern und Temozolomid in einer alternativen Dosierung. Experimentelle Therapien sollten grundsätzlich nur in Studien durchgeführt werden.
„In den letzten Jahren spielt die molekulare Diagnostik bei der Gliom-Klassifizierung eine zunehmende Rolle“, erläutert der federführende Leitlinien-Autor Prof. Dr. Wolfgang Wick, Klinik für Neurologie und Klinische Kooperationseinheit Neuroonkologie, Universitätsklinikum Heidelberg und Deutsches Krebsforschungszentrum. „Bestimmte molekulare Merkmale haben inzwischen die Bedeutung der WHO-Klassifikation insbesondere bezüglich der Prognoseabschätzung überholt und erlauben häufig erst eine eindeutige Benennung der Diagnose. Wir fordern, dass die molekulardiagnostischen Algorithmen zur Klassifikation von Gliomen standardisiert werden, damit es nicht zu Verzögerungen der gegebenenfalls spezifischen Therapien kommt.“
Literatur
[1] Wick W. et al. Gliome, S2k-Leitlinie, 2021, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 27.07.2021)