Trotz Pflegereform weiterhin unkalkulierbare Kosten für Pflegebedürftige
- DAK-Studie: Anteil der Sozialhilfeempfänger in der Pflegeversicherung steigt 2021 Modellrechnungen zufolge auf Rekordniveau von 35 Prozent.
- Trotz Pflegenovelle weist die Pflegeversicherung ein Defizit von über einer Milliarde Euro auf, das bis 2025 auf rund 3,5 Milliarden Euro anwächst.
- DAK-Vorstandschef Andreas Storm fordert verlässliche und nachhaltige Begrenzung der Heimkosten für Pflegebedürftige.
Auch nach der Pflegereform der Bundesregierung entstehen unkalkulierbare Kosten für Pflegebedürftige in stationären Einrichtungen. Das ist ein Ergebnis der neuen Studie des Bremer Pflegeökonomen Prof. Dr. Heinz Rothgang im Auftrag der DAK-Gesundheit. Mehr als ein Drittel der Pflegebedürftigen ist aktuell von Sozialhilfe abhängig. Ihr Anteil wird in diesem Jahr das Rekordniveau von rund 35 Prozent erreichen. Das ist der höchste Wert seit Einführung der Pflegeversicherung Mitte der 1990er Jahre. An dieser Entwicklung wird sich auch durch die Pflegereform mittelfristig nichts ändern. Die mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) verabschiedete Pflegereform führt nur zu einer kurzfristigen Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen. Auch in Zukunft wird daher ein erheblicher Teil der Pflegebedürftigen in Pflegeheimen auf Sozialhilfe angewiesen sein. Nach einem Rückgang 2022 ist bereits 2023 mit einem erneuten Anstieg zu rechnen. Zudem droht in der Pflegeversicherung eine reformbedingte Deckungslücke von 1,1 Milliarden Euro, die 2025 auf 3,5 Milliarden Euro steigt.
Laut DAK-Studie des Bremer Pflegeökonomen Prof. Dr. Heinz Rothgang wirkt die Pflegereform von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn nicht nachhaltig. „Die Entwicklungen in der Pflegeversicherung sind alarmierend“, warnt DAK-Vorstandschef Andreas Storm. „Die Pflegeversicherung kann trotz der jüngsten Reform ihren eigenen Anspruch, pflegebedingte Sozialhilfeabhängigkeit zu verhindern, zunehmend weniger erfüllen“, so Storm weiter. Die Pflegereform 2021 sei nicht geeignet, die Probleme der finanziellen Überlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Familien zu lösen. Die neuen Leistungszuschläge führten nur zu einer kurzfristigen Entlastung, begrenzten den weiteren Anstieg der Eigenanteile aber nicht. Nach wie vor sei es unmöglich vorherzusagen, wie hoch der Eigenanteil sein werde, wenn Pflegebedürftigkeit in Zukunft auftritt. „Gezielte Vorsorge ist daher weiterhin nicht möglich“, sagt Kassenchef Storm. Die in der Pflegereform beschlossenen Leistungszuschläge seien zudem so niedrig angesetzt, dass sie im Durchschnitt nicht einmal in der Lage seien, die reformbedingten Anstiege der Pflegesätze zu kompensieren – geschweige denn die Eigenanteile zu senken. „Diese Reform ist eine ‚Pflegereform light‘. Wir brauchen dringend verlässliche und finanzierbare Heimkosten für Pflegebedürftige“, sagt Kassenmanager Andreas Storm.
Datengrundlage der Expertise sind unter anderem Berechnungen zu Einkommen, Vermögen und Heimentgelten. Zudem wurden die Finanzwirkungen, die durch die Reformelemente des GVWG in Bezug auf Pflegefinanzierung, Entlohnung und Personalanstieg entstehen, analysiert. Ein Ergebnis: Durch die Verpflichtung zur Entlohnung auf Tarifniveau und die Refinanzierung von mehr Personal wird die finanzielle Entlastungswirkung der gestaffelten Leistungszuschläge zunichte gemacht. „Dies führt dazu, dass die Sozialhilfeabhängigkeit nach 2022 wieder ansteigt,“ sagt Pflegeökonom Prof. Rothgang. Schon ab 2024 werde die Sozialhilfequote der stationär versorgten Pflegebedürftigen von 2019 überschritten, deren Höhe bereits als zu hoch bewertet wurde und den Anstoß zur aktuellen Pflegereform lieferte.
„Die Modellwerte zeigen, dass – ohne eine echte Begrenzung der Eigenanteile – dauerhaft mehr als ein Drittel der Pflegebedürftigen in stationärer Versorgung auf Sozialhilfe angewiesen sein werden – mit steigender Tendenz“, so DAK-Vorstandschef Andreas Storm. „Der politische Handlungsbedarf bleibt unverändert hoch. Pflege darf kein Armutsrisiko sein. Deshalb gehört bereits in der ersten Hälfte der kommenden Wahlperiode eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung auf die politische Agenda.“
Die Pflegeversicherung wurde vor 26 Jahren nicht zuletzt deshalb eingeführt, um pflegebedingte Sozialhilfeabhängigkeit zu reduzieren. De facto führen steigende Heimkosten auch nach Einführung der neuen Leistungszuschläge zu steigenden Belastungen der Pflegebedürftigen und in der Folge zu wieder wachsenden Anteilen an Sozialhilfeempfängern. Durch die steigenden Ausgaben für Hilfe zur Pflege wächst auch die Belastung der Kommunen.
Die Pflegeversicherung übernimmt in Teilen gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Dafür müsse es einen angemessenen Steuerzuschuss geben; notwendig seien systematische Änderungen in der Finanzierungsstruktur der Pflegeversicherung, so die Studienergebnisse. „Wir brauchen eine völlig neue Finanzstatik in der Pflege, um Menschen im Pflegefall vor einem Armutsrisiko zu bewahren“, sagt Storm. Das Ziel müsse eine faire Lastenverteilung zwischen Beitragszahlern, Steuerzahlern und Pflegebedürftigen sein. Nach dem von der DAK-Gesundheit vorgeschlagenen Reformkonzept würden Pflegebedürftige dagegen mehr finanzielle Sicherheit erhalten, indem ihre Eigenanteile gedeckelt und kalkulierbar werden. Die Eigenanteile würden entsprechend der Lohnentwicklung dynamisch steigen. „Dieses Modell ist nicht nur geeignet, Sozialhilfeabhängigkeit im Bereich der stationären Pflege deutlich zu reduzieren,“ so Storm. „Es ermöglicht darüber hinaus auch dem Einzelnen, rechtzeitig Eigenvorsorge für das Risiko der Pflegebedürftigkeit zu betreiben.“
4,1 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig, von ihnen werden rund 819.000 in Heimen vollstationär versorgt (Quelle Statistisches Bundesamt). Die Ausgaben der Pflegeversicherung sind zwischen 2015 und 2020 von 29 auf 49 Milliarden Euro gestiegen (Quelle BMG).
Das Statistische Bundesamt hat am 19. August die Daten zur Entwicklung der Sozialhilfeausgaben im Jahr 2020 publiziert: Insgesamt sind sie gegenüber dem Vorjahr um 6,5 Prozent gestiegen. Der stärkste prozentuale Anstieg mit 14 Prozent auf 4,3 Milliarden Euro war im Bereich „Hilfe zur Pflege“ zu verzeichnen.
Die Entgelte für einen stationären Heimplatz werden zum kleineren Teil von der Pflegeversicherung, zum größeren Teil aber von den Pflegebedürftigen selbst getragen. Die privat zu tragenden Kosten für einen stationären Heimplatz setzen sich für Pflegebedürftige aus folgenden Komponenten zusammen: Einrichtungseinheitlicher Eigenanteil (EEE) für pflegebedingte Kosten im engeren Sinn, Entgelte für Unterkunft und für Verpflegung sowie gesondert in Rechnung gestellte Investitions- und Ausbildungskosten.
Die DAK-Gesundheit ist mit 5,6 Millionen Versicherten eine der größten Krankenkassen in Deutschland.