Hungrige Gehirnzellen
Anlässlich des Welt-Alzheimer-Tages erklärt Neurowissenschafterin Sandra Siegert, was Mikroglia mit Alzheimer zu tun haben und warum Spaziergänge vorbeugend gegen Demenz wirken.
Jahrzehntelang wurden Mikroglia kaum beachtet, mittlerweile sind sie eines der brisantesten Themen der Gehirnforschung. Besonders heiß wird ihre Rolle bei der Alzheimerkrankheit diskutiert, von der weltweit etwa 38,5 Millionen Menschen betroffen sind. Mit fortschreitender Krankheit fällt es Menschen mit Alzheimer schwer zu kommunizieren, sich an aktuelle Ereignisse zu erinnern und ihnen nahestehende Menschen zu erkennen. Professorin Sandra Siegert will die Zellen verstehen, um den Weg für neue Therapieansätze für verschiedene Krankheiten, von Depressionen bis Parkinson, zu ebnen.
Schneiden wir statt der Zwiebel unseren Finger, eilen Immunzellen herbei, um die Wunde zu verschließen. Lange dachte man, dass auch Mikroglia dazu dienen, Verletzungen im Gehirn zu heilen und Infektionen zu bekämpfen – mit mäßigem Erfolg, denn schaffen es Krankheitserreger bis ins Gehirn, ist der Schaden meist groß. „Erst Anfang der 2000er Jahre erkannten Forschende, dass Mikroglia auch eine andere Aufgabe haben“, sagt Professorin Sandra Siegert. Mit ihrem Team untersucht die Neurowissenschafterin am Institute of Science and Technology (IST) Austria, welche Rolle Mikroglia im gesunden und im kranken Gehirn spielen.
„Mikroglia können die Verbindungen zwischen den Nervenzellen verändern. Sie gestalten also unser Nervensystem aktiv mit“, erklärt die gebürtige Deutsche, die seit 2015 in Österreich lebt und forscht. In den ersten Lebensjahren, wenn das Gehirn besonders anpassungsfähig ist, befinden sich Mikroglia in einem reaktiven Zustand. Indem sie schwache Verbindungen kappen, verfeinern sie das Netzwerk der Nervenzellen. Später verändern sie ihre Form und beobachten, ob alles funktioniert wie es soll.
Vom Rettungsversuch zur Zerstörungswut
Auf großen Tafeln ordnet Sandra Siegert in ihrem Büro Informationshäppchen über die kleinen Fresszellen – viele Fragen sind noch offen. So auch, ob Mikroglia das Gehirn vor Alzheimer zu schützen versuchen oder es gar zerstören. „Das ist eine große Debatte“, so Siegert. „Anfangs sieht es so aus, als wollten sie die Krankheit aufhalten. Aber dann scheint es einen Kipppunkt zu geben und sie beginnen das Gehirn zu zerstören.“ Die Mikroglia reagieren also falsch auf die körpereigenen Signale und kappen gesunde Verbindungen. Bei Menschen mit Alzheimer zeigt sich das etwa in Form von Erinnerungslücken, Sprachstörungen und Verhaltensänderungen. Rechtzeitig zu erkennen, wenn Mikroglia von einem beobachtenden in einen reaktiven und, im Fall von Alzheimer, zerstörenden Zustand wechseln, könnte neue Therapieformen ermöglichen.
Der Unterschied zwischen den kugeligen reaktiven Mikroglia, die Gewebe umschließen und abbauen, und den beobachtenden Mikroglia, deren Fortsätze sich wie Wurzeln durch das Gewebe ziehen, ist deutlich erkennbar. Doch die Übergänge sind fließend. Die Forscher_innen haben daher 3-D-Modelle von Mikrogliazellen aus dem Gehirn von Mäusen erstellt. Mithilfe mathematischer Algorithmen vergleichen sie so Mikroglia zu unterschiedlichen Zeitpunkten während der Gehirnentwicklung und im erkrankten Gehirn miteinander. „Anhand ihrer Form suchen wir nach Hinweisen, ob eine Mikrogliazelle reaktiv wird“, erklärt die Wissenschafterin.
Ungeahnte Möglichkeiten
Bereits in der Vergangenheit erkannten Forschende, dass Licht, das 40 Mal pro Sekunde flimmert, Mikroglia dazu veranlasst, Eiweißablagerungen im Gehirn zu entfernen, die durch die Alzheimerkrankheit entstehen. In einer kürzlich erschienenen Studie zeigten die Forscher_innen um Sandra Siegert: Flimmerndes Licht kann noch mehr! Sie stimulierten die Mikroglia im gesunden Gehirn mit Licht, das bei 60 Hertz flimmerte und machten es damit wieder empfänglich für neue Inhalte. In Zukunft möchte Siegert untersuchen, wie sich der Effekt bei Depressionen auswirken könnte.
Immer deutlicher zeigt sich, wie wichtig Mikroglia in einer Vielzahl von Erkrankungen sind. „Reaktive Mikroglia finden sich bei der Alzheimerkrankheit, bei Amyotropher Lateralsklerose (ALS), bei der Parkinson-Krankheit und vielen anderen degenerativen neurologischen Erkrankungen. Das Immunsystem scheint immer aktiviert zu werden“, schildert Siegert. Aber wie werden die Zellen aktiviert? Warum wenden sie sich manchmal gegen das System? Und verhalten sie sich im weiblichen Gehirn anders als im männlichen? Das sind nur ein paar drängende Fragen, die sich Sandra Siegert und ihr Team stellen. Auch wenn es noch dauern wird, bis aus ihren Erkenntnissen neue Therapieansätze geworden sind, gibt es schon heute einiges, was wir für die Gesundheit unseres Gehirns tun können.
Demenz vorbeugen
„Treiben Sie Sport, ernähren Sie sich gesund und denken Sie viel“, sagt die Neurowissenschafterin. Das Risiko an Alzheimer, der häufigsten Form von Demenz, zu erkranken, nimmt mit dem Alter zu. Einen neuen Weg gehen, neue Dinge lernen, sein Gehirn neuen Erfahrungen und Sinneseindrücken aussetzen – das halte jung. „Ich habe das in meinem engen Umfeld erlebt: Wenn Menschen in Pension gehen und nichts mehr zu tun haben, fallen viele in ein Loch und bauen geistig ab. Ich sage meiner Oma also immer, dass sie am Ball bleiben soll“, erzählt Siegert.
Sie selbst spiele seit ihrem PhD-Studium Geige. Das fordere nicht nur das Gehirn heraus, es helfe ihr auch in ihrem stressigen Alltag als Professorin in einem hochkompetitiven Feld zu entspannen. Denn, auch das zeigt die Forschung deutlich, Dauerstress ist Gift für das Gehirn. Im Umgang mit Menschen mit Alzheimer und anderen dementiellen Erkrankungen plädiert die Wissenschafterin dafür, sie dabei zu ermutigen, möglichst viele Aufgaben selbst zu übernehmen, auch wenn das viel Geduld von Pflegenden erfordere. Ob in Gesundheit oder Krankheit: Besonders wichtig sei es, mit anderen Menschen zu interagieren.