‚Natürliche Gentherapie‘ bei Blutkrebs im Kindesalter häufiger als angenommen

Um die Entwicklung einer seltenen Blutkrebs-Art bei Kindern besser zu verstehen, haben Freiburger Forscher*innen 18 Jahre intensiv geforscht und jetzt wichtige neue Erkenntnisse in Nature Medicine veröffentlicht

Seltene Krankheiten sind schwer zu erforschen. Denn die meisten Ärzt*innen sehen in ihrem Berufsleben höchstens wenige Betroffene. Gleichzeitig stehen seltene Erkrankungen oft modellhaft für Prinzipien in der Medizin. Wie wichtige daher Fortschritte bei seltenen Erkrankungen sind, zeigen nun Wissenschaftler*innen der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg gemeinsam mit internationalen Kolleg*innen. Sie untersuchten in einer seit 1998 laufenden internationalen Studie genetische Veränderungen bei Kindern mit myelodysplastischem Syndrom, kurz MDS. Die beteiligten Forscher*innen zeigten, dass etwa acht Prozent der Betroffenen vererbbare Genveränderungen in denen Genen SAMD9 oder SAMD9L haben, die ursächlich für die Krankheit sind. Die Genveränderungen in SAMD9/SAMD9L führen zu einer Wachstumshemmung der Blutstammzellen im Knochenmark. In 61 Prozent der Fälle konnten die Forscher zeigen, dass die Stammzellen weitere Genveränderungen erwerben, die das erkrankte Gen ausschalten. Bei einigen Patient*innen führten diese zusätzlichen Veränderungen dazu, dass die Erkrankung aggressiver wurde, bei anderen konnte das erkrankte Gen erfolgreich stillgelegt werden und die Patient*innen waren geheilt. Von dieser Art der „natürlichen“ Gentherapie können die Wissenschaftler*innen nun lernen, wie die Krankheit gezielt behandelt werden könnte. Die Studie wurde am 7. Oktober 2021 im renommierten Fachmagazin Nature Medicine veröffentlicht und stellt eine wichtige Grundlage für die Entwicklung diagnostischer und therapeutischer Ansätze dar.

„Wir konnten in unserer Studie zeigen, dass bestimmte natürliche genetische Veränderungen die MDS ausbremsen. Bei manchen Patient*innen konkurrierten auch krebsfördernde und krebshemmende Genveränderungen in den Krebszellen um die Vorherrschaft. Diese „natürliche“ Gentherapie liefert uns entscheidende Hinweise darauf, wie wir zukünftig Patienten mit einer „künstlichen“ Gentherapie behandeln und heilen könnten“, sagt Prof. Dr. Charlotte Niemeyer. Die Ärztliche Direktorin der Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie des Universitätsklinikums Freiburg leitet seit 1998 die europäische Studie EWOG-MDS zur Erforschung von myelodysplastischen Syndromen (MDS) und juveniler myelomonozytärer Leukämie (JMML) im Kindesalter. Ziel dieses weltweit größten pädiatrischen MDS-Registers ist, die Erkrankung in all ihren Facetten von der Diagnostik über die Therapie und die klinische Prognose zu untersuchen. Niemeyer hat das Projekt auch Rahmen des Deutschen Konsortiums für Translationale Krebsforschung (DKTK) vorangetrieben.

Die Untersuchungen der veränderten Gene legen den Grundstein, um den Veränderungsprozess zukünftig im Detail erforschen und verstehen zu können. „Wir wollen herausfinden, wie wir die entsprechenden Gene manipulieren können“, sagt Studienleiter Dr. Marcin Wlodarski, der die Arbeiten am Universitätsklinikum Freiburg begann und mit seiner Arbeitsgruppe am St. Jude Children’s Hospital in Memphis, USA, erfolgreich weiterführte.

„Die Studie ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Grundlagenforschung und klinische Forschung in der universitären Spitzenmedizin ineinandergreifen. Sie zeigt außerdem, dass ein langer Atem gerade bei der Erforschung seltener Krankheiten enorm wichtig ist“, so Prof. Dr. Lutz Hein, Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg.

Was ist das myelodysplastische Syndrom?

Kinder mit myelodysplastischen Syndromen (MDS) bilden nicht genügend Blutzellen in ihrem Knochenmark. Sie haben daher ein höheres Risiko, an Leukämie zu erkranken. In vielen Fällen kann den betroffenen Kindern nur eine Stammzelltransplantation helfen.
https://ewog-mds-saa.org

Original-titel der Studie: Clinical evolution, genetic landscape and trajectories of clonal hematopoiesis in SAMD9/SAMD9L syndromes
DOI: 10.1038/s41591-021-01511-6
Link zur Studie: www.nature.com/articles/s41591-021-01511-6