Was das Viruserbgut über die COVID-19-Pandemie in England verrät
Die COVID-19-Krise, von der England zwischen September 2020 und Juni 2021 betroffen war, kann eher als eine Reihe von sich überlagernden Epidemien denn als ein einzelnes Ereignis betrachtet werden. Dies zeichnet die bisher detaillierteste Analyse von Virusgenomen nach, die nun ein Team vom Wellcome Sanger Institute, vom Europäischen Bioinformatik-Institut EMBL (EMBL-EBI) und vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) veröffentlicht hat. In diesem Zeitraum hatte das Land mit diversen Versionen des SARS-CoV-2-Virus zu kämpfen, die sich unterschiedlich schnell ausbreiten konnten und dadurch unterschiedlich starke Maßnahmen zur Eindämmung erforderten.
Die Geschichte der Pandemie
Die nun in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichte Studie ist die bisher detaillierteste Analyse der genomischen Überwachungsdaten von SARS-CoV-2. Sie beschreibt die wissenschaftliche Geschichte der Pandemie, und unterstreicht die Bedeutung einer schnellen, groß angelegten Überwachung des Viruserbguts für das Verständnis der Infektionsausbrüche und für die adäquaten Reaktionen darauf.
Im März 2020, als England sich gerade auf den ersten von mehreren Lockdowns vorbereitete, wurde das „COVID-19 Genomics UK (COG-UK)“ Konsortium gegründet, um die Ausbreitung und Entwicklung von SARS-CoV-2 durch Sequenzierung des Virusgenoms zu überwachen. Seitdem hat das Konsortium zahlreiche Virusvarianten identifiziert und überwacht, darunter Alpha, erstmals im September 2020 in Kent identifiziert, und Delta, das erstmals im April 2021 in Indien nachgewiesen wurde. Diese beiden Varianten änderten in der Folge den Verlauf der Pandemie, nicht nur in England, sondern weltweit.
Für die Studie analysierte das Forscherteam SARS-CoV-2-Überwachungsdaten aus England, die zwischen September 2020 und Juni 2021 erhoben wurden. Sie charakterisierten die Wachstumsraten und die geografische Ausbreitung von 71 Viruslinien und rekonstruierten, wie sich neu auftretende Varianten ausbreiten.
Aufstieg und Fall verschiedener Varianten
Ende 2020 breitete sich die Alpha-Variante (B.1.1.7) trotz einer Reihe von Maßnahmen zur Kontakteinschränkung aus. Obwohl diese Maßnahmen die Ausbreitung anderer Linien verlangsamten, konnte sich Alpha mit seinem 50- bis 60-prozentigen Wachstumsvorteil gegenüber früheren Linien weiterhin schnell verbreiten.
Im Dezember 2020 trat in England ein System von gestaffelten Maßnahmen zur Kontakteinschränkung in Kraft. Dabei waren die Infektionsraten in Gebieten mit geringeren Beschränkungen höher. Alpha wurde erst durch einen dritten nationalen Lockdown zwischen Januar und März 2021 unter Kontrolle gebracht. Mit dieser Maßnahme wurden gleichzeitig die meisten Viruslinien eliminiert, die im September und Oktober 2020 vorherrschend gewesen waren. Als die Beschränkungen am 8. März 2021 aufgehoben wurden, war die tägliche Fallzahl auf 5.500 gesunken.
Während Alpha unter Kontrolle gebracht wurde, traten Anfang 2021 im Vereinigten Königreich auf niedrigem Niveau weiterhin neue Varianten auf, die besser in der Lage waren, die Immunität durch Impfung oder vorherige Infektion zu umgehen. Diese Varianten zeichneten sich durch die Spike-Mutation E484K aus. Die wichtigsten waren die Beta-Variante (B.1.351, erstmals in Südafrika identifiziert) und die Gamma-Variante (P.1, erstmals in Brasilien identifiziert). Trotz wiederholter Einschleppung dieser Varianten beschränkten sie sich jedoch auf kurzlebige lokale Ausbrüche.
Im März 2021 tauchten die ersten Sequenzdaten von B.1.617 auf, die Proben hatten ihren Ursprung in Indien. Es handelte sich um zwei Varianten, Kappa (B.1.617.1) und Delta (B.1.617.2). Die Mutationen in Delta machten das Virus viel leichter übertragbar. Während sich Kappa nur langsam ausbreitete und inzwischen wieder verschwunden ist, hat sich Delta in allen Regionen ausgebreitet und machte 98 Prozent der bis zum 26. Juni 2021 sequenzierten Virusgenome aus.
Ein Virus im Wandel
„Es hat sich rasch gezeigt, wie wichtig es war, das „COVID-19 Genomics UK Konsortium“ zu Beginn der Pandemie zu gründen“, sagt Moritz Gerstung, einer der Hauptautoren der Studie vom EMBL-EBI und vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). „Durch die Möglichkeit, die Abstammungslinien parallel zueinander mit zu verfolgen und sie bestimmten Regionen zuzuordnen, konnten wir nachvollziehen, wie sich diese Serie von Epidemien entwickelt hat. Die Tatsache, dass Alpha in fast 250 von 315 Kommunen schneller wuchs, war ein klares Signal, dass wir es mit einem ganz anderen Erreger zu tun haben. Zugleich haben wir gelernt, dass die Genetik von SARS-CoV-2 unglaublich komplex ist. Obwohl wir alle Mutationen von Delta kannten, war uns beispielsweise nicht sofort klar, dass sich diese Variante zur dominanten Linie entwickeln würde.“
Die Analyse von Delta zeigt, dass seine Reproduktionsrate ca. 60 Prozent höher war als die von Alpha – der größte Wachstumsvorteil, der bisher beobachtet wurde. Insgesamt schätzen die Forscher, dass sich die durchschnittliche Reproduktionsrate R der Viren zwischen August 2020 und dem Frühsommer 2021 in England mehr als verdoppelt hat.
„Dank der genomischen Überwachung in England und auf internationaler Ebene ist klar, dass wir es mit einem Erreger zu tun haben, das sich gegenüber dem ursprünglichen Virus, mit dem wir im März 2020 konfrontiert waren, erheblich verändert hat“, sagte Meera Chand von der UK Health Security Agency (UKHSA). „Wir werden das SARS-CoV-2-Virus weiterhin überwachen, um sicherzustellen, dass wir die wirksamsten Impfstoffe, Behandlungen und Public Health-Maßnahmen gegen aktuelle und künftige Varianten einsetzen.“
Der Wert der genomischen Überwachung
Auch wenn es nach wie vor unmöglich ist, vorherzusagen, wie sich das Virus als Nächstes verändern wird, hat das COG-UK-Konsortium den Wert der Überwachung von Infektionserregern bewiesen. Nur 18 Monate nach seiner Gründung liefert das Programm nun nahezu in Echtzeit epidemiologische Informationen, die der öffentlichen Gesundheit in England als Grundlage dienen. Die Wissenschaftler hoffen, eines Tages in der Lage zu sein, anhand dieser Informationen das Auftreten neuer Varianten vorherzusagen.
„Die Daten aus der Überwachung der Corona-Genome geben uns völlig neue Möglichkeiten, den Ausbruch einer Krankheit mitzuverfolgen und zu erkennen, wie sich ein neuer Infektionserreger ausbreitet und entwickelt“, sagt Jeff Barrett vom Wellcome Sanger Institute, ebenfalls Autor der Studie und ergänzt: „Ich hoffe, dass weltweit vergleichbare Programme entwickelt werden, damit wir so gut wie möglich auf künftige Pandemien vorbereitet sind – unabhängig davon, ob es sich um bekannte oder neue Erreger handelt.“
Publikation:
Harald S. Vöhringer, Theo Sanderson, Matthew Sinnott, Nicola De Maio, Thuy Nguyen, Richard Goater, Frank Schwach, Ian Harrison, Joel Hellewell, Cristina Ariani, Sonia Gonçalves, David Jackson, Ian Johnston, Alexander W. Jung, Callum Saint, John Sillitoe, Maria Suciu, Nick Goldman, Jasmina Panovska-Griffiths, The Wellcome Sanger Institute Covid-19 Surveillance Team, The COVID-19 Genomics UK (COG-UK) Consortium, Ewan Birney, Erik Volz, Sebastian Funk, Dominic Kwiatkowski, Meera Chand, Inigo Martincorena, Jeffrey C. Barrett, Moritz Gerstung: Genomic reconstruction of the SARS-CoV-2 epidemic in England
Nature 2021, doi: https://doi.org/10.1101/2021.05.22.21257633
Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Über 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können. Beim Krebsinformationsdienst (KID) des DKFZ erhalten Betroffene, interessierte Bürger und Fachkreise individuelle Antworten auf alle Fragen zum Thema Krebs. Gemeinsam mit Partnern aus den Universitätskliniken betreibt das DKFZ das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) an den Standorten Heidelberg und Dresden, in Heidelberg außerdem das Hopp-Kindertumorzentrum KiTZ. Im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), einem der sechs Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, unterhält das DKFZ Translationszentren an sieben universitären Partnerstandorten. Die Verbindung von exzellenter Hochschulmedizin mit der hochkarätigen Forschung eines Helmholtz-Zentrums an den NCT- und den DKTK-Standorten ist ein wichtiger Beitrag, um vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik zu übertragen und so die Chancen von Krebspatienten zu verbessern. Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.