SARS-CoV-2-Verbreitung in Äthiopien stark unterschätzt
Die Fachzeitschrift „The Lancet Global Health“ hat die Ergebnisse einer Verlaufsstudie zur Verbreitung von SARS-CoV-2 in Äthiopien veröffentlicht. In einer äthiopisch-deutschen Forschungskooperation hat das Tropeninstitut am LMU Klinikum München Blutproben von Gesundheitspersonal und städtischen und ländlichen Gemeinden auf Antikörper untersucht. Die Ergebnisse legen nahe, dass die tatsächliche COVID-19 Prävalenz wesentlich höher ist als bis dahin offiziell berichtete Zahlen. Das Forschungsteam empfiehlt daher eine Neuausrichtung der Impfstrategie für Afrika.
Seit dem ersten berichteten COVID-19 Fall in Äthiopien im März 2020 ist die tatsächliche Verbreitung von SARS-CoV-2 im Land und in Afrika generell weitestgehend unbekannt. Die offizielle Datenlage gibt hierzu bislang wenig Aufschluss. Entgegen Befürchtungen einer humanitären Krise wurden für den afrikanischen Kontinent zu Beginn der Pandemie nur verhältnismäßig wenige COVID-19 (Todes-)Fälle gemeldet. Neuere Studien aber legen nahe, dass die Verbreitung von SARS-CoV-2 bei Beschäftigten im Gesundheitswesen hoch ist (z. B. 41,2 Prozent in der Demokratischen Republik Kongo, 45,1 Prozent in Nigeria). Andere sporadische Berichte geben teilweise noch höhere Zahlen wie 60 Prozent unter Blutspendern in Südafrika an. Es stellt sich die Frage, wie stark der Afrikanische Kontinent tatsächlich durch das Virus betroffen ist und was dies für die Strategien zur Pandemiebekämpfung in Afrika bedeutet.
In einer internationalen Kooperation des Tropeninstituts am LMU Klinikum München (Dr. Arne Kroidl und PD Dr. Andreas Wieser) und der äthiopischen Partner der Jimma Universität (Jimma Medical Center, JMC, Professor Esayas Kebede Gudina, PhD) und des St. Paul’s Klinikums in Addis Abeba (SPHMMC, Solomon Ali, PhD), führte das Forschungsteam* gemeinsam mit dem Helmholtz Zentrum München, der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Technischen Universität München und der Universität Bonn eine Untersuchung zur Verbreitung von SARS-CoV-2 durch Antikörperbestimmung durch. In ihrer Studie in Äthiopien analysierten sie Blutproben von medizinischem Personal „an vorderster Front“ (frontline healthcare workers) sowie aus städtischen und ländlichen Gemeinden in Jimma und Addis Abeba. Ziel war es, mit der Kohortenstudie erstmals epidemiologische Daten zur Seroprävalenz (Häufigkeit spezifischer Antikörper im Blutserum) und Seroinzidenz (Anstieg des Anteils Antikörper-positiver Individuen über die Zeit) in Afrika im zeitlichen Verlauf zu erhalten.
Die Forschung wurde durch die Bayerische Staatskanzlei finanziert. Bayerns Staatsministerin für Europaangelegenheiten und Internationales, Melanie Huml: „Klar ist: Wir können globale Herausforderungen wie die COVID-19 Pandemie nur weltweit und gemeinsam bewältigen. Daher hat Bayern die bayerisch-äthiopische Forschung zur Verbreitung von COVID-19-Antikörpern mit 500.000 Euro unterstützt. Die Forschungsergebnisse zeigen, wie gut angelegt dieses Geld ist. Auf deren Grundlage lässt sich die Eindämmung von COVID-19 auf dem afrikanischen Kontinent wirksamer leisten. Ich freue mich, dass sich die langjährige Partnerschaft zwischen bayerischen und äthiopischen Akteuren im Gesundheitsbereich für uns alle auszahlt.“
Von August 2020 bis April 2021 führten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler serologische Untersuchungen von Blutproben von medizinischem Fachpersonal an zwei Lehrkrankenhäusern in der Stadt Jimma und den umliegenden ländlichen Gemeinden sowie in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba durch. Dies erfolgte in insgesamt drei Studienrunden.
Dramatischer Anstieg der SARS-CoV-2-Seroprävalenz im zeitlichen Verlauf:
Die Ergebnisse zeigten, dass die SARS-CoV-2-Seroprävalenz unter dem medizinischen Personal während des Studienzeitraums dramatisch angestiegen war: Im Klinikum in Addis Abeba verzeichnete das Forschungsteam einen Anstieg von 10,9 Prozent im August 2020 auf 53,7 Prozent im Februar 2021, was auf eine Sieben-Tage-Inzidenz von 2.223 pro 100.000 Einwohner schließen lässt. In Jimma stiegen die Zahlen bei 30,8 Prozent im November 2020 auf 56,1 Prozent im Februar 2021, dies legt eine Inzidenzrate von 3.810 pro 100.000 Einwohnern nahe. In den städtischen Gemeinden zeigte sich Anfang 2021 ein deutlicher Anstieg der Seroprävalenz auf fast 40 Prozent, dies entspräche Inzidenzraten von 1.622 in Jimma bzw. 4.646 pro 100.000 Einwohner in Addis Abeba. Die Seroprävalenz in ländlichen Regionen stieg von 18 Prozent im November 2020 auf 31 Prozent im März 2021. Damit liegen die Zahlen zur vermuteten Seroprävalenz weit über den gemeldeten Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder Johns-Hopkins-Universität (von 290.000 Infektion bei 112 Millionen Einwohnern – dies entspricht einer Prävalenz von 0,26 Prozent, Stand: August 2021).
Neuausrichtung der Impfstrategie für Afrika gefordert:
Die Studie veranschaulicht die COVID-19-Infektionsdynamik in einer afrikanischen Bevölkerung anhand der Ausbreitung von SARS-CoV-2 unter medizinischem Personal, in der Stadt und auf dem Land in Äthiopien. Die Ergebnisse deuten auf eine große Infektionswelle in Äthiopien hin, die besondere Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Belastung des Gesundheitssystems und die Kontrolle von COVID-19 Ausbrüchen erfordert. Vor diesem Hintergrund fordert Professor Dr. Michael Hoelscher, Direktor des Tropeninstituts am LMU Klinikum, eine Anpassung der
Impfstrategie für afrikanische Länder: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Immunität – durch durchgemachte SARS-CoV-2 Infektionen – in der afrikanischen Bevölkerung viel höher ist als angenommen. Dies ermöglicht es, Impfstoffe effektiver einzusetzen. So könnte zum Beispiel vor einer Impfung der Antikörperstatus ermittelt und gegebenenfalls nur eine Dosis als Auffrischung verimpft werden. Zudem ermöglicht dies einen gezielten Einsatz des Impfstoffes, insbesondere bei Risikogruppen und bei älteren Menschen.“
Partner der Studie:
• Leitung: Tropeninstitut (Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin), LMU Klinikum München
• Deutsches Zentrum für Infektionsforschung (DZIF), Standort München
• Jimma Universität (JU), Institut für Gesundheitswesen, Jimma, Äthiopien
• St. Paul’s Klinikum (St. Paul’s Hospital Millennium Medical College, SPHMMC), Addis Abeba, Äthiopien
• Institut für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE), Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU)
• Helmholtz Zentrum München, Institute of Computational Biology
• Technische Universität München, Zentrum Mathematik
• Universität Bonn, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät
Finanzierung:
Die Studie wurde durch die Bayerische Staatskanzlei, durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (MoKoCo19; 01KI20271), durch das EU-Förderprogramm “Horizon 2020” der Europäischen Kommission (ORCHESTRA; 101016167), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (SEPAN; HA 7376/3-1) und die Volkswagenstiftung (E2; 99 450) finanziert.
Original publication:
Gudina E K*, Ali S*, Girma E, Gize A, Tegene B, Hundie G B, Sime, W T, Ambachew R, Gebreyohanns A, Bekele M, Bakuli A, Elsbernd K, Merkt S, Contento L, Hoelscher M, Hasenauer J, Wieser A*, Kroidl A*
Seroepidemiology and model-based prediction of SARS-CoV-2 in Ethiopia: longitudinal cohort study among front-line hospital workers and communities, The Lancet Global Health 2021; 9: e1517–27.
https://www.thelancet.com/journals/langlo/article/PIIS2214-109X(21)00386-7/fulltext
(*geteilte Erst- und Letztautorenschaften)
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