Corona-Pandemie: Sind Menschen mit psychischen Vorerkrankungen durch die Auswirkungen stärker belastet?
Wissenschaftler*innen der Universitätsmedizin Göttingen erheben Langzeitdaten mit neu entwickelter Befragungsmethode. Ergebnisse ihrer Studie veröffentlicht in „European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience“
(umg/NUM) Berufliche und private Einschränkungen sowie ein eingeschränktes Sozialleben während der Corona-Pandemie können zu erhöhter psychischer Belastung führen. Bisher wurde angenommen, dass Menschen mit psychischen Vorerkrankungen während der Pandemie verstärkt Stress erleben, sich dadurch ihre Symptome verschlechtern oder es zu Rückfällen kommt. Somit könnten sie eine Risikogruppe mit besonderem Behandlungsbedarf sein, die durch die Maßnahmen zur Pandemiebewältigung besonders belastet sind. Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Teilprojekts zum Pandemiemanagement, egePan Unimed, des Nationalen Forschungsnetzwerks der Universitätsmedizin zu Covid-19 (NUM) wurden diese Patient*innen in den Blick genommen.
Ein Forscher*innen-Team der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) unter Leitung von Priv.-Doz. Dr. Claus Wolff-Menzler, Priv.-Doz. Dr. Claudia Bartels und Priv.-Doz. Dr. Michael Belz, alle Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, konnte jetzt in einer Langzeitstudie zeigen: Der Verlauf der psychischen Belastung bei Patient*innen mit psychischen Vorerkrankungen während der Pandemie weist ein charakteristisches Muster auf – die Patient*innen reagieren mit Be- und Entlastung, abhängig von Beschränkungen („Lockdown“) und Lockerungen. Dieser Verlauf entspricht, verglichen mit Studien aus der Allgemeinbevölkerung, einer normalen Stressreaktion mit nachfolgender Gewöhnung. Gleichzeitig ist jedoch das Stresserleben bei Menschen mit psychischen Vorerkrankungen hoch.
„Trotz dieser positiven Ergebnisse sollte der Langzeitverlauf der psychischen Belastung weiterhin kontinuierlich beobachtet werden, um eine Verschlechterung rechtzeitig zu erkennen und entsprechend gegenzusteuern“, sagt Priv.-Doz. Dr. Claudia Bartels, Erstautorin der Studie und Leitende Psychologin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der UMG. Im zweiten Lockdown stellte das Forscher*innen-Team eine Abnahme an Schutzfaktoren bei den Studienteilnehmer*innen fest, die sich nach und nach weiter erschöpfen könnten. „Insbesondere Frauen, Patient*innen mit mehreren psychischen Erkrankungen sowie Patient*innen, die initial stark auf Stresssituationen reagieren, zeigen einen ungünstigen Verlauf und haben daher ein besonderes Risiko für einen erhöhten Behandlungsbedarf“, so Bartels.
Für die Erhebung der Daten wurden 213 Patient*innen zwischen 18 und 95 Jahren mit einem breiten Spektrum an psychischen Erkrankungen im Verlauf der Pandemie telefonisch interviewt. Mit Hilfe einer neu entwickelten Befragungsmethode, dem Göttinger Belastungs- und Symptominventar (Gö-BSI), befragten die Wissenschaftler*innen die Patient*innen zu psychosozialer Belastung, Symptomveränderungen sowie Risiko- und Schutzfaktoren.
Die Ergebnisse der Studie sind am 25. November 2021 veröffentlicht in der psychiatrischen und neurologischen Fachzeitschrift „European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience“.
OriginalpublikationBartels C, Hessmann P, Schmidt U, Vogelgsang J, Ruhleder M, Kratzenberg A, Treptow M, Reh-Bergen T, Abdel-Hamid M, Heß L, Meiser M, Signerski-Krieger J, Radenbach K, Trost S, Schott BH, Wiltfang J, Wolff-Menzler C, Belz M (2021): Medium-term and peri-lockdown course of psychosocial burden during the ongoing Covid-19 pandemic: A longitudinal study on patients with pre-existing mental disorders. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. DOI: 10.1007/s00406-021-01351-y
Hintergrundinformation
Menschen sind in der Lage, Stress- oder Problemsituationen durch verschiedene Strategien zu bewältigen. Diese Fähigkeit kann bei psychisch erkrankten Menschen verringert sein oder sogar fehlen und macht sie besonders anfällig für das Erleben von Stress. Dies verschlimmert potentiell Symptome. Daher können diese Patient*innen zu einer psychiatrischen Risikogruppe mit besonderem Behandlungsbedarf zählen.
Die Studie im Detail
Ziel der Studie war es herauszufinden, wie die anhaltende Pandemie bei Patient*innen mit psychischen Vorerkrankungen das Erleben psychosozialer Belastung beeinflusst, um daraus mögliche Behandlungsbedarfe abzuleiten. Die Veränderung der psychosozialen Belastung und psychischer Krankheitssymptome über die Zeit wurden erfasst und Risikofaktoren abgeleitet, die den Verlauf der Erkrankungen ungünstig beeinflussen. Um ein Gesamtbild des Gesundheitszustandes der Studienteilnehmer*innen zu erhalten, wurden auch Angaben zu Schutzfaktoren (wie zum Beispiel Sport oder familiärer Kontakt) erfragt, die helfen können, das pandemie-bedingte Stresserleben zu bewältigen und den Gemütszustand positiv beeinflussen.
Insgesamt 213 Patient*innen zwischen 18 und 95 Jahren mit einem breiten Spektrum an psychischen Erkrankungen, die sich bereits vor dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der UMG in nicht-stationärer Behandlung befanden, nahmen an der Studie teil. Ihre Erkrankungen umfassten unter anderem Depression, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie und Autismusspektrumsstörungen. Die Teilnehmenden wurden gegen Ende des ersten Lockdowns im April/Mai 2020 in einem 30-minütigen Telefoninterview befragt und sollten eine Einschätzung zu ihrer psychosozialen Belastung, zu psychischen Symptomen und Schutzfaktoren abgeben. 159 dieser Patient*innen konnten während des zweiten Lockdowns im November/Dezember 2020 erneut befragt werden. Zum Einsatz kam dabei das an der UMG neu entwickelte Göttinger Belastungs- und Symptominventar (Gö-BSI), eine Befragungsmethode basierend auf 77 Fragen. Diese Methode ermöglichte sowohl eine aktuelle Einschätzung der psychosozialen Belastung während der Lockdowns als auch eine rückblickende Einschätzung für Zeitpunkte vor Beginn der Pandemie (Anfang 2020) und in den ersten Wochen des ersten Lockdowns (Mitte März 2020).
Für alle psychiatrischen Krankheitsbilder ergab sich ein ähnliches Muster: Die psychosoziale Belastung stieg in der Frühphase der Pandemie an, nahm anschließend jedoch über die zwei Lockdowns hinweg stetig ab und erreichte Ende 2020 schließlich wieder ein ähnliches Niveau wie vor Beginn der Pandemie. „Dieser Verlauf spricht für eine normale Stressreaktion mit nachfolgender Gewöhnung, wie sie auch bei gesunden Menschen beobachtet werden kann. Die psychiatrischen Symptome zeigten bei den Teilnehmenden keine wesentlichen Veränderungen“, sagt Bartels.
Nationales Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin zu Covid-19
Patient*innen optimal versorgen, Infektionen verhindern, Gesundheitsversorgung erhalten: Die Covid-19-Pandemie bringt Herausforderungen mit sich, die innerhalb kurzer Zeit neue Handlungsstrategien erfordern. Das Nationale Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin zu Covid-19, kurz Netzwerk Universitätsmedizin (NUM), bündelt und stärkt Forschungsaktivitäten zur Bewältigung der aktuellen Lage. Gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, koordiniert durch die Charité – Universitätsmedizin Berlin, arbeitet das Forschungsnetzwerk unter Beteiligung aller deutschen Universitätsklinika und weiterer Netzwerke an Lösungen für eine bestmögliche Patient*innenversorgung in der Pandemie. 13 umfängliche Verbundprojekte mit Leitungen an den verschiedenen Standorten der Universitätsmedizin sind hierfür konzipiert worden. Das Programm ist auf schnelle, unmittelbare Unterstützungswirkungen ausgerichtet. Ein Akzent liegt auf der kliniknahen Forschung und Versorgungsforschung, deren Ergebnisse gemäß dem translationalen Ansatz direkt in Versorgung und Krisenmanagement einfließen. Dem Forschungsnetzwerk und den beteiligten Einrichtungen stehen zur Umsetzung dieser Aufgabe rund 150 Millionen Euro im ersten Jahr bereit, ab 2021 soll das Netzwerk bis zum Jahr 2024 mit weiteren 80 Millionen Euro jährlich bzw. zusätzlichen 240 Millionen Euro gefördert werden. Die gemeinsamen Entwicklungen in Forschung und Patientenversorgung, evidenzbasiertes Vorgehen sowie gegenseitiges Lernen sollen zu einem gemeinsamen Vorgehen bei der Pandemiebekämpfung und einer „Pandemic Preparedness“ führen.
Weitere Informationen:https://www.netzwerk-universitaetsmedizin.de