Schnelleres Altern durch Stress
Graumulle besitzen für die Alternsforschung sehr bemerkenswerte Eigenschaften. Sie bekommen fast nie Krebs, sind noch im hohen Alter weitestgehend gesund und im Vergleich zu anderen Nagetieren extrem langlebig. In Abhängigkeit von ihrem Status in der Kolonie altern die Mulle unterschiedlich: sind sie sexuell aktiv, dann werden sie fast doppelt so alt wie ihre Artgenossen. Forscher des Leibniz-Instituts für Alternsforschung (FLI) in Jena und der Universität Duisburg-Essen untersuchten, welche statusspezifischen Veränderungen diesem lebensverlängernden Phänomen zugrunde liegen. Sie fanden heraus, dass die Graumull-Arbeiter unter Dauerstress stehen und somit vorzeitig altern.
Jena/Essen. Graumulle (Fukomys) sind Nagetiere und gehören zur Gattung der Sandgräber. Sie leben in Afrika in großen unterirdischen Kolonien und sind nahe Verwandte der bekannteren Nacktmulle (Heterocephalus glaber). Wie diese besitzen sie für die Alternsforschung sehr interessante Eigenschaften: sie bekommen fast nie Krebs, sind noch im Alter weitestgehend gesund und für ihre geringe Körpergröße extrem langlebig. Denn größere und schwerere Säugetierarten werden für gewöhnlich älter als kleinere Arten. Mit einer Lebensspanne von über 20 Jahren werden die nur maus- bis rattengroßen Mulle um ein Vielfaches älter, als man anhand ihres Gewichtes erwarten würde. Auch im Vergleich zu ihren nahen Verwandten, die oft nur wenige Jahre alt werden, sind sie extrem langlebig.
Ferner sind Nackt- und Graumulle eusoziale Säugetiere, die wie Ameisen und Bienen in einer Art „Kastensystem“ mit einem einzigen Pärchen an der Spitze einer Kolonie (royale Kaste) leben. Demgegenüber stehen die restlichen Tiere der Kolonie (Arbeiter), die auf die eigene Fortpflanzung zugunsten der royalen Kaste verzichten müssen. Einige Graumullarten, wie zum Beispiel der Riesengraumull (F. mechowii), altern stark kastenabhängig, d.h. während die Arbeiter der Kolonie meist nicht älter als 10 Jahre alt werden, lebt die royale Kaste unabhängig vom Geschlecht doppelt so lange. Forscher vom Jenaer Leibniz-Institut für Alternsforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) sind diesem Phänomen mit Kollegen der Universität Duisburg-Essen und des Uniklinikums Essen genauer nachgegangen. Die Studie wurde jüngst in der renommierten Fachzeitschrift „eLife“ veröffentlicht.
Lebenserwartung steigt nach Aufstieg in royale Kaste
„Bei den Graumullen vermehrt sich für gewöhnlich nur das Pärchen an der Spitze der Kolonie. Es ist für die Fortpflanzung und den Fortbestand der Kolonie zuständig,“ berichtet Dr. Arne Sahm vom FLI und Erstautor der Studie. Die anderen Tiere der Kolonie pflanzen sich zwar nicht fort, sind aber auch nicht unfruchtbar. Wenn sie die Kolonie verlassen, können sie sich ebenfalls vermehren und eine eigene Kolonie gründen. Mit dieser Strategie vermeiden die Mulle Inzest innerhalb ihrer Geburtsfamilie. Das bedeutet aber gleichfalls, dass Arbeiter in der Regel innerhalb der Heimatkolonie nicht in die royale Kaste aufsteigen können. Der lebensverlängernde Aufstieg in die „reproduktive Kaste“ lässt sich allerdings im Laborversuch erfolgreich simulieren, wenn ein Tier mit einem gegengeschlechtlichen Exemplar einer anderen Kolonie zusammengebracht wird. Der damit initiierte Statuswechsel markiert den Beginn eines verlangsamten Alternsprozesses.
Statusspezifische Veränderungen der Genexpression
Da es sich um die gleiche Art handelt und ein Kastenaufstieg prinzipiell möglich ist, kann als Erklärung für die abweichenden Alternsgeschwindigkeiten eine unterschiedliche genetische Ausstattung ausgeschlossen werden. „Wir konnten zudem in früheren Arbeiten zeigen, dass sich die Arbeiter hinsichtlich ihrer Ernährung und ihrer Aktivitäten kaum von den reproduktiv aktiven Tieren unterscheiden, mit Ausnahme eben der sexuellen Betätigung,“ ergänzt Dr. Philip Dammann von der Universität Duisburg-Essen.
„Wir vermuteten daher, dass bei den Angehörigen der royalen Kaste das gleiche Genom offenbar anders interpretiert wird. Dass mit dem Kastenaufstieg quasi ein Schalter umgelegt wird, der die Gene einfach anders reguliert“, erläutert Dr. Arne Sahm die These. Zur Überprüfung dieser Hypothese untersuchte das Forscherteam aus Jena und Duisburg-Essen über 600 Proben aus verschiedenen Organen und Geweben von zwei Graumullarten (F. mechowii und F. micklemi) der royalen Kaste und von altersgleichen Arbeitern auf statusspezifische Veränderungen der Genexpression. Das Ziel bestand darin, Gene und Signalwege zu identifizieren, die einerseits mit der statusabhängigen Langlebigkeit zusammenhängen und andererseits diese Befunde mit den bereits bekannten Erkenntnissen aus kürzer lebenden Arten zu vergleichen.
Dilemma unterschiedlicher Befunde für kurz- und langlebige Modellorganismen
Für die meisten Organe und Gewebe konnten die Wissenschaftler zwischen den Kasten nur kleine Unterschiede in der Genexpression feststellen. Stärkere Veränderungen fanden sie vor allem in Geweben, die für die Hormonproduktion zuständig sind (z.B. in der Schilddrüse und Nebenniere). Ein maßgeblicher Unterschied betraf den Anabolismus, also den Aufbau körpereigener Stoffe von beispielsweise Proteinen. Dieser war in der royalen Kaste deutlich stärker ausgeprägt. „Ein äußerst interessanter Befund, denn er steht im direkten Gegensatz zu vielen Erkenntnissen aus der Forschung an kurzlebigen Modellorganismen,“ erklärt Steve Hoffmann, Forschungsgruppenleiter am FLI und Professor für Computational Biology an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Aus der Forschung an Fadenwürmern, Fruchtfliegen und Mäusen ist bekannt, dass sich die Lebenserwartung erhöhen lässt, wenn der anabole Stoffwechsel gehemmt wird.
„Bis heute ist noch weitgehend unklar, inwieweit sich die an kurzlebigen Arten gewonnenen Erkenntnisse auch auf langlebige Arten wie den Menschen übertragen lassen“, unterstreicht Prof. Steve Hoffmann. „Unsere Befunde zeigen vielmehr, dass sich diese nicht immer eins zu eins auf langlebigere Arten übertragen lassen. Vergleichende Ansätze, bei denen kurz- und langlebige Arten einbezogen werden, könnten ein Weg sein, um dieses Dilemma zu umgehen. Im Fall der Graumulle ist der Vergleich beispielsweise innerhalb einer Art möglich.“
Dauerstress führt zu vorzeitigem Altern
Eine weitere wichtige Veränderung betraf die Synthese von Steroidhormonen. Während in der royalen Kaste vor allem diejenigen Gene hochreguliert waren, die für die Produktion von Sexualhormonen zuständig sind (was auch zu erwarten war, da die Tiere sexuell aktiv wurden), wurden bei den Arbeitern vor allem Gene ausgelesen, die für die Produktion von Steroidhormonen (Glucocorticoiden) verantwortlich sind. Diese Glucocorticoide, auch Stresshormone genannt, beeinflussen den Stoffwechsel, Wasser- und Elektrolythaushalt, das Herz-Kreislaufsystem und Nervensystem. Ferner wirken sie entzündungshemmend und immunsuppressiv, indem sie Immunreaktionen des Körpers abmildern.
„Dies ist ein Beleg dafür, dass die Graumulle der Arbeiterkaste unter Dauerstress stehen und dadurch früher altern“, unterstreicht Dr. Sahm. Gleichfalls treten bei solchen Mullen verschiedene Merkmale auf, die durch chronischen Stress ausgelöst werden. Beim Menschen und vielen anderen Säugetieren führt ein langanhaltender Überschuss an Glucocorticoiden zum Cushing-Syndrom, was die Anfälligkeit für Erkrankungen erhöht und zu einer Zunahme des Körperfetts und deutlichen Gewichtszunahme führt. Das konnte auch bei den Mullen beobachtet werden: im Versuch legten die Angehörigen der Arbeiterkaste im Durchschnitt doppelt so viel Gewicht zu wie die der royalen Kaste.
Neues Modell für Stress-indizierte Alterung?
Das Forscherteam will nun nach Möglichkeiten suchen, inwieweit sich die durch Dauerstress induzierte beschleunigte Alterung der Graumulle als Modell eignet, um Auswirkungen von Stress und stressbedingtem Altern beim Menschen zu untersuchen. Bereits jetzt gibt es Hinweise darauf, dass Menschen, die unter einem traumatischem, chronischen oder auch durch einen niedrigen sozialen Status bedingten Stress leiden, ebenfalls schneller altern.
Publikation
Increased longevity due to sexual activity in mole-rats is associated with transcriptional changes in the HPA stress axis. Sahm A, Platzer M, Koch P, Henning Y, Bens M, Groth M, Burda H, Begall S, Ting S, Goetz M, Van Daele P, Staniszewska M, Klose JM, Costa PF, Hoffmann S, Szafranski K, Dammann P. Elife. 2021, 10, e57843. doi: 10.7554/eLife.57843, https://elifesciences.org/articles/57843
Hintergrundinformation
Das Leibniz-Institut für Alternsforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) in Jena widmet sich seit 2004 der biomedizinischen Alternsforschung. Rund 350 Mitarbeiter aus ca. 40 Nationen forschen zu molekularen Mechanismen von Alternsprozessen und alternsbedingten Krankheiten. Näheres unter http://www.leibniz-fli.de.
Die Leibniz-Gemeinschaft verbindet 97 eigenständige Forschungseinrichtungen. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen. Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung, auch in den übergreifenden Leibniz-Forschungsverbünden, sind oder unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer, vor allem mit den Leibniz-Forschungsmuseen. Sie berät und informiert Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Leibniz-Einrichtungen pflegen enge Kooperationen mit den Hochschulen – in Form der Leibniz-WissenschaftsCampi, mit der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland. Die Leibniz-Institute unterliegen einem transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 20.500 Personen, darunter 11.500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das Finanzvolumen liegt bei 2 Milliarden Euro. (http://www.leibniz-gemeinschaft.de).
Originalpublikation:
Increased longevity due to sexual activity in mole-rats is associated with transcriptional changes in the HPA stress axis. Sahm A, Platzer M, Koch P, Henning Y, Bens M, Groth M, Burda H, Begall S, Ting S, Goetz M, Van Daele P, Staniszewska M, Klose JM, Costa PF, Hoffmann S, Szafranski K, Dammann P. Elife. 2021, 10, e57843. doi: 10.7554/eLife.57843, https://elifesciences.org/articles/57843