Angriff auf die grauen Zellen: Forscher entwickeln neues Modell für MS-Forschung

Original Titel:
β-Synuclein-reactive T cells induce autoimmune CNS grey matter degeneration

MedWissGöttinger Forscher haben ein neues Modell entwickelt, mit dem sich nun erstmals direkte Angriffe des Immunsystems auf die graue Hirnsubstanz bei MS untersuchen lassen. Und haben damit vermutlich auch einen neuen Ansatzpunkt bei Multipler Sklerose entdeckt.


„Die grauen Zellen anstrengen“ meint, sich mehr Gedanken zu etwas machen, angestrengter nachzudenken. Und in der Tat gibt es Bereiche im Gehirn, die mit bloßem Auge grau aussehen. Wissenschaftler nennen diese Bereiche daher auch die graue Substanz. Hier sitzen die Nervenzellen sehr dicht beieinander, die die Signale des Körpers und der Umwelt verarbeiten. So werden Körperfunktionen gesteuert, Bewegungen ausgeführt, aber auch Gefühle, Gedanken, Pläne entstehen.

Nervenzellen haben meist sehr langgestreckte Fortsätze

Dafür, dass die jeweiligen Informationen entsprechend weitergeleitet werden, ist die weiße Substanz des Gehirns zuständig. Sie besteht aus den Fortsätzen der Nervenzellen und ist, ähnlich eines Kabels, mit einer Schutzschicht aus Myelin ummantelt. Diese hilft dabei, dass elektrische Reize der Nervenzellen schnellstmöglich und gezielt weitergeleitet werden.

Angriffe auf Nervenfortsätze unterbrechen die Reizweiterleitung

Schon länger ist bekannt, dass bei Multipler Sklerose (MS) Immunzellen unter anderem die Myelinschicht der Nervenzellen angreifen und beschädigen. Durch Entzündungen und Schäden an den Nervenfortsätzen kommt es zu Problemen oder gar Unterbrechungen in der Reizweiterleitung. Signale können dann nicht mehr richtig ausgetauscht werden. So kommt es z. B. zu Lähmungen oder Taubheitsgefühlen bei MS.

Angriffe auf Nervenzellkörper lösen andere Symptome aus

Doch manche Symptome der MS, wie chronische Erschöpfungszustände (Fatigue), Gedächtnisstörungen oder epileptische Anfälle, deuten darauf hin, dass auch die Steuerzentralen im Gehirn, die graue Substanz, von der Erkrankung betroffen ist. In Untersuchungen von Betroffenen zeigt sich, dass die graue Hirnsubstanz bei MS ebenfalls vom Immunsystem angegriffen wird. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse deuten sogar darauf hin, dass Schädigungen der grauen Gehirnsubstanz besonders für unumkehrbare Schäden im Gehirngewebe und einen chronisch fortschreitenden Verlauf (progredienter Verlauf) der Erkrankung verantwortlich sind. Gerade bei den stetig fortschreitenden Verläufen gibt es bisher noch kaum ausreichend wirksame Therapiemöglichkeiten.

Tiermodelle helfen beim Verstehen von MS

Was genau im Gehirn bei einer MS-Erkrankung passiert, haben Wissenschaftler anhand von Tiermodellen untersucht. Die Erkenntnisse aus diesen Untersuchungen werden dann daraufhin überprüft, ob sie genauso wie beim Tier auch im menschlichen Gehirn ablaufen. Zur Erforschung von MS wurde daher bisher vor allem mit einem Tiermodell gearbeitet, bei dem Immunzellen zum Einsatz kommen, die sich gegen Bestandteile der Schutzschicht der Nervenzellfortsätze richten, sprich gegen die weiße Hirnsubstanz. Die Mäuse zeigen dann sehr ähnliche Symptome wie Menschen mit MS.

Attacken des Immunsystems auf die graue Hirnsubstanz bei MS gaben Rätsel auf

Doch obwohl bestimmte MS-Symptome auf Schädigungen in der grauen Substanz hindeuteten, konnten Wissenschaftler im Tiermodell direkte Angriffe durch das Immunsystem bisher nicht nachweisen – und daher auch nicht untersuchen. Die Ursache für diese Symptome der MS blieb daher rätselhaft. Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen haben daher an einem neuen Modell gearbeitet, um Angriffe des Immunsystems auf die graue Substanz erstmals genauer untersuchen zu können.

Neues Modell soll helfen, Vorgänge in der grauen Substanz bei MS besser zu verstehen

Sie verwendeten dafür den gleichen Ansatz, jedoch unterscheidet sich das Ziel der Immunzellen, die das Gehirn angreifen. Statt die Myelinschicht in der weißen Substanz ist das Ziel im neuen Modell der Göttinger Forscher ein bestimmtes Eiweiß namens beta-Synuklein, das in den Schaltzentralen der Nervenzellen, also der grauen Hirnsubstanz, vorkommt. Die Wissenschaftler beobachteten, dass die Tiere bei Angriffen dieser Immunzellen neuartige neurologische Symptome zeigten. In weiteren Untersuchungen wurde deutlich, dass auch die Schäden im Gehirn anders waren, als im bisher verwendeten Modell. Die Immunzellen griffen gezielt die graue Substanz an, lösten nach mehrmaligen Attacken unreparierbare Schäden aus und ließen die graue Hirnsubstanz schrumpfen. Damit konnten die Wissenschaftler erstmals die Schäden in der grauen Substanz bei MS im Tiermodell nachstellen.

Forscher finden Hinweise, dass Ablauf beim Menschen genauso sein könnte

Die Wissenschaftler schauten sich daraufhin die Immunzellen im Blut von Menschen mit MS an. Sie fanden auch hier Immunzellen, die das körpereigene Eiweiß beta-Synuklein als fremd erkennen und angreifen. Besonders bei Patienten mit stetig fortschreitenden Verläufen (progredienter MS) konnten die Göttinger Forscher besonders hohe Zahlen dieser Immunzellen nachweisen, was vermuten lässt, dass eben diese Immunzellen auch beim Menschen für die Schäden verantwortlich sind.

Möglicher Ansatzpunkt für neue Diagnoseverfahren und Behandlungen

Damit haben die Forscher aus Göttingen nicht nur ein erstes Modell zur Erforschung der entzündlichen Prozesse in der grauen Hirnsubstanz bei MS entwickelt, sondern auch gleichzeitig erste Erkenntnisse zur Ursache der Läsionen in diesen Bereichen des Gehirns geliefert. Aus diesen neuen wissenschaftlichen Ergebnissen könnten neue diagnostische und therapeutische Ansätze hervorgehen.

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