Migräne
Aktuelle Diskussion zur Langzeitsicherheit der Migräneprophylaxe – Teil 2: CGRP im Immunsystem
Original Titel:
Anti-migraine agents from an immunological point of view
- Meilenstein der Migränetherapie: Prophylaxe mit CGRP-Antikörpern
- CGRP vermittelt Infektionsantwort im Immunsystem
- Zellulärer Hilferuf bei Virusinfekt verstärkt mit CGRP
- CGRP als Förderer der gesunden Bakteriengemeinschaft der Haut
- Immunologische Effekte bei Risikopatienten bedenken und beobachten
MedWiss – Im letzten Jahrzehnt demonstrierten klinische Studien die Wirksamkeit neuer Medikamente zur präventiven Behandlung der Migräne, der Antikörper gegen CGRP, und veränderten damit die Prophylaxe der Migräne grundlegend. Wissenschaftler argumentieren nun jedoch, dass es nicht bei den Studien zur kurzfristigen Sicherheit der Medikamente bleiben darf, da CGRP verschiedene wichtige Rollen im Körper übernimmt und ein dauerhafter Block daher mit Risiken bei längerer Behandlung einhergehen kann. Wir fassen die aktuelle Diskussion zusammen. Teil 2: CGRP im Immunsystem.
Im letzten Jahrzehnt demonstrierten klinische Studien die Wirksamkeit neuer Medikamente zur präventiven Behandlung der Migräne. Ziel der Medikamentenentwicklung waren drei Aspekte: Diese Mittel sollten das Eiweiß CGRP oder seinen Rezeptor blockieren, besser verträglich sein als bislang eingesetzte Prophylaktika und/oder wirksamer und sicherer als andere Behandlungen sein. Die neuen monoklonalen Antikörper gegen Migräne sind inzwischen in vielen Ländern zugelassen und im Einsatz und stellen ohne Zweifel einen Meilenstein in der Migränetherapie dar.
Meilenstein der Migränetherapie: Prophylaxe mit CGRP-Antikörpern
Mehrere Wissenschaftler argumentieren nun allerdings unabhängig voneinander, dass diese Studien auf die kurzfristige Sicherheit der Anwendung beschränkt waren und verschiedene Risiken bei längerer Behandlung nicht ausgeschlossen werden können. Im Zulassungsprozess der europäischen Arzneimittelbehörde EMA wurde auf den Mangel an präklinischen Daten verwiesen, da kein Tiermodell für Migräne existiert. Somit ist auch die präklinische Datenlage zur Sicherheit begrenzt. Die Forscher beschreiben, welche Funktionen CGRP im Körper übernimmt und welche Probleme ein Block dieser Funktion mit sich bringen könnte. Sie bieten allerdings auch eine Perspektive zu Vorsichtsmaßnahmen in der Migränetherapie an, um Betroffenen die Linderung mit größerer Sicherheit zu ermöglichen.
Innovative Therapie für die Migräne: Ja, aber sicher
CGRP nimmt eine Reihe wichtiger Rollen im Körper ein. Von der Migränetherapie ist bekannt, dass es die Erweiterung von Gefäßen bewirkt. Damit ist CGRP nicht nur ein Kopfschmerz-Problem, sondern auch eine wichtige Substanz bei der Homöostase in gastrointestinalen und kardiovaskulären Systemen. Zusätzlich ist CGRP allerdings auch ein Akteur im Immunsystem, wie neuere Untersuchungen zeigen. Wir fassen hier Analysen zu diesen Fragen und Organsystemen zusammen und berichten in diesem Text zur Rolle von CGRP im Immunsystem.
CGRP vermittelt Infektionsantwort im Immunsystem
Assas (2021) beleuchtete die Rolle von CGRP im Immunsystem. Dass das Eiweiß CGRP sowie andere Neuropeptide bei der Immunabwehr mitmischten, wurde zuerst vermutet, als Nerven, die CGRP enthielten, in nächster Nähe zu Zellen im peripheren Gewebe gesehen wurden, die gewissermaßen als Wachposten fungieren. Solche Zellen sind beispielsweise Mastzellen, Makrophagen und dendritische Zellen. Seitdem wurde detaillierter erforscht, wie stark CGRP in die Immunität gegenüber viralen, bakteriellen und parasitischen Infektionen involviert ist. Dabei bestehen verschiedenste Querverlinkungen zwischen Nervensystem und Immunsystem, sowohl auf zellulärer als auch auf der Proteinebene.
CGRP kann beispielsweise die Antigenpräsentation in dendritischen Zellen modulieren und indirekt die Funktion von T-Zellen beeinflussen, zitiert der Autor ältere Untersuchungen. In mit dem Varicella zoster-Virus (Auslöser von Windpocken und Herpes zoster) infizierten sensorischen Nervenzellen sank die CGRP-Genexpression der Zellen. In einer weiteren Studie zeigte sich, dass mit dem Herpes simplex-Virus (HSV-1) infizierte Makrophagen höhere Mengen des inflammatorischen Zytokins IL-1β abgaben, wenn sie mit CGRP behandelt wurden. Mit CGRP erfolgte somit ein “Hilferuf” der Zellen an das Immunsystem, durch den die pro-inflammatorische Reaktion auf die Virusinfektion stimuliert wurde. Dieser Hilferuf könnte demnach durch manche Viren direkt, aber auch durch einen medikamentösen CGRP-Block, unterdrückt werden.
Zellulärer Hilferuf bei Virusinfekt verstärkt durch CGRP
In der Haut scheint CGRP dagegen eine etwas andere Rolle einzunehmen. Es konnte nach neueren Studien die Virulenz von Staphylococcus epidermidis, einem bei uns ‘heimischen’ Bakterium, steigern. Dies scheint zu einer Regulierung der Interaktion zwischen pathogenen Staphylcoccus aureus und der Haut zu führen. CGRP fördert somit, neben noch weitreichend unverstandenen, komplexen Effekten, die relevant für die Wundheilung sein könnten, eine gesunde bakterielle Gemeinschaft auf unserer Haut. Gleichzeitig kann die Substanz aber auch direkt antibakteriell wirken, zeigte sich in einer Studie mit der Fruchtfliege Drosophila. Hierbei wurde ein Homolog zu unserem CGRP untersucht. Dieses unserem verwandte Eiweiß führte im Verdauungstrakt der Fliegen nach Aufnahme von Bakterien zu starken Kontraktionen. Dadurch wurden die verspeisten Bakterien rasch aus dem Darm entfernt (Benguettat et al. 2018, Plos One). Aktuelle Untersuchungen zum Effekt von CGRP bei Menschen (Migräne-CGRP bringt auch den Darm durcheinander …) und Diskussionen um die Rolle von CGRP und mögliche Effekte der Antikörper dagegen treffen somit hier auf die Aufgaben des “Migräneeiweiß” in der Immunabwehr.
CGRP als Förderer der gesunden Bakteriengemeinschaft der Haut
Darüber hinaus deutet eine Reihe von Untersuchungen auch auf eine kritische Rolle von CGRP bei der Bekämpfung von Parasiten. Unabhängig von diesen Aufgaben von CGRP im Immunsystem, ist die Dosierung der Medikamente gegen CGRP bzw. gegen seinen Rezeptor erstaunlich, schreibt Assas, wenn man sie mit den physiologischen, also normalen Konzentrationen von CGRP vergleicht. Die Antikörper werden in Dosen zwischen 70 und 140 mg/ml verabreicht, die physiologische Konzentration von CGRP im menschlichen Blut liegt dagegen bei 5 – 10 × 10 − 6 µg/ml. Die Medikamente haben zudem eine relativ lange Halbwertszeit von 28 – 39 Tagen. Dadurch sind sie zur Migräneprophylaxe bei Behandlung in größeren Zeitabständen gut geeignet, beeinflussen allerdings auch die Immunabwehr möglicherweise nachhaltig.
Immunologische Effekte bei Risikopatienten bedenken und beobachten
Dieser Review zeigt somit die wichtige Rolle von CGRP im Körper auf. Die Behandlung der Migräne mit Anti-CGRP-Antikörpern (bzw. Anti-CGRP-Rezeptor) könnte immunologische Effekte mit sich bringen. Grundsätzlich, schreibt der Autor, ist demnach eine achtsame und umsichtige Behandlung der Migräne mit den neuen Antikörpern angebracht. Er schlägt vor, besonders solche Patienten in der Prophylaxetherapie engmaschig zu beobachten, die ein Risiko für bestimmte virale, bakterielle oder parasitische Infektionen tragen. Zudem empfiehlt er, die Dosierungen graduell zur optimalen Symptomlinderung bei minimaler Dosis zu steigern. Desweiteren argumentiert der Wissenschaftler für den Blick ‘upstream’ von CGRP – die vermehrte CGRP-Ausschüttung ist nur eine Folge der Migräne und somit vermutlich, langfristig gesehen nicht das beste Behandlungsziel.
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