Neue Studie: Computersimulationen zeigen die Wirksamkeit muskulärer Kontrollstrategien beim Gehen
Wer zu Fuß in der Stadt unterwegs ist, muss den Gang immer wieder an Bordsteinkanten oder Treppenstufen anpassen. Für die dabei erforderlichen Änderungen der Muskelaktivität hat jeder Mensch Kontrollstrategien entwickelt, die ihn vor Stolper- und Sturzunfällen bewahren. Forscher*innen der Universität Bayreuth haben jetzt erstmals durch Computersimulationen diese Strategien und ihre Wirksamkeit analysiert. Dabei konnten sie zeigen, dass eine auf visueller Wahrnehmung basierende Strategie, welche die Muskulatur frühzeitig auf Höhenunterschiede vorbereitet, weitaus besser schützt als situationsbezogene Muskelreflexe. In „Scientific Reports“ wird die neue Studie vorgestellt.
Wenn Bordsteinkanten, Treppenstufen oder andere Höhenunterschiede des Untergrunds im Voraus wahrgenommen werden, kann sich die Muskulatur entsprechend darauf einstellen. Dabei werden das Knie- und das Sprunggelenk stärker gebeugt, die Höhe des Körperschwerpunkts ändert sich. Diese vorausschauende muskuläre Anpassung wird in der Forschung als antizipative Kontrollstrategie oder auch als „High-Level-Strategie“ bezeichnet. Eine andere, weniger anspruchsvolle „Low-Level-Strategie“ beruht allein auf muskulären Reflexen. Diese Reflexe werden beim Gehen erst ausgelöst, wenn der Schritt von der Bordsteinkante oder der Treppenstufe bereits getan wird und die Gefahr des Stolperns und Hinfallens unmittelbar gegeben ist.
„In unserer Studie wollten wir herausfinden, welchen Einfluss diese unterschiedlichen Strategien auf das Gangverhalten haben und wie bedeutsam sie jeweils für eine sichere Überwindung von Höhenunterschieden sind. Dabei stellte sich allerdings das Problem, dass keine der beiden Kontrollstrategien vom Menschen komplett ausgeschaltet werden kann. Deshalb lässt sich der Einfluss einer einzelnen Strategie nur schwer mit ausgewählten Testpersonen ermitteln. Mit Computersimulationen sind aber derartige Analysen möglich“, erklärt der Leiter der Studie PD Dr. Roy Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Trainingswissenschaft an der Universität Bayreuth und Leiter des Ganglabors der Klinikum Bayreuth GmbH – Medizincampus Oberfranken.
Die Forscher*innen haben ihren Simulationen am Rechner ein neuromuskuläres Modell zugrunde gelegt, bei dem die Muskeln allein durch Reflexe stimuliert werden. Mit diesem Modell können Effekte der „Low-Level-Strategie“ isoliert dargestellt werden. Wie sich herausstellte, ist mit dieser Strategie eine effiziente, unfallvermeidende Anpassung des Gehens an einen plötzlich tieferen Untergrund nur gewährleistet, wenn der Höhenunterschied drei Zentimeter nicht übersteigt. Bordsteinkanten sind jedoch in der Regel fünf bis 12 Zentimeter hoch. Offenbar reicht eine nur auf Reflexen aufbauende Kontrollstrategie nicht aus, um Stürze zu vermeiden. Daher wurde dieses Modell im Rahmen der Studie um eine zusätzliche antizipative Strategie ergänzt. Die Computersimulationen zeigten jetzt signifikante Fortschritte: Mit der Kombination einer High-Level- und einer Low-Level-Strategie ist gewährleistet, dass Höhenunterschiede zwischen drei und 21 Zentimetern unfallfrei bewältigt werden können. „Dieses Ergebnis unterstreicht klar die Bedeutung antizipativer Anpassungen im Alltag. Es belegt, dass Menschen, die wegen verringerter Sehkraft oder neuronaler Erkrankungen zu diesen Anpassungen nur noch eingeschränkt in der Lage sind, ein erheblich höheres Sturzrisiko haben“, sagt Müller.
Anknüpfend an die neue Studie will das Bayreuther Forschungsteam seine Untersuchungen zu antizipativen Strategien weiter vertiefen. Dabei geht es beispielsweise auch um die möglichen Einflüsse von medizinischen Wirkstoffen oder von Alkohol, die diese Form der muskulären Kontrolle schwächen könnten. Weitere Untersuchungen richten sich auf die Frage, inwieweit High-Level-Strategien durch Trainings- und Lernprogramme gestärkt und optimiert werden können.
Kooperation und Forschungsförderung:
Die Forschungsarbeiten wurden in Zusammenarbeit mit Mitarbeiter*innen am Hertie Institute for Clinical Brain Research and Center for Integrative Neuroscience in Tübingen, an der Universität Stuttgart und an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt. Sie wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst gefördert.
Originalpublikation:
Lucas Schreff, Daniel F. B. Haeufle, Johanna Vielemeyer, Roy Müller: Evaluating anticipatory control strategies for their capability to cope with step-down perturbations in computer simulations of human walking. Scientific Reports 12, 10075 (2022), DOI: https://doi.org/10.1038/s41598-022-14040-0